Predigt von Bischof Dr. Helmut Dieser an Pfingsten, 23. Mai 2021

Predigt von Bischof Dr. Helmut Dieser im Hohen Dom zu Aachen
an Pfingsten , 23. Mai 2021,
L1: Apg 2, 1-11; L2: Gal 5, 16-25 [2]; Ev: Joh 15, 26-27; 16, 12-15 [2].

 

Es gilt das gesprochene Wort


Liebe Schwestern und Brüder,

in den Zehn Geboten gibt es gleich zwei, die sich gegen das mensch­liche Begehren richten, das neunte und das zehnte: 9. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Frau oder Mann. 10. Du sollst nicht begeh­ren deines Nächsten Hab und Gut (vgl. GL 601, 1 ff.).

Was meint dieses Begehren? 

Es geht dabei nicht nur um harmlose Sachen, also etwa zu kostspielige Wünsche abzuwehren oder unpassenden Antrieben zu widerstehen. 

Es geht um viel mehr: um etwas viel Mächtigeres, das anfängt, mich zu beherrschen. Ich muss das haben, egal wie. Das muss jetzt passie­ren, komme, was da wolle. Solches Begehren wird grenzenlos und un­ersättlich, es richtet Unrecht an, es zerstört, verletzt, spaltet. 

Das Neunte und das Zehnte Gebot betreffen sehr tiefe Lebens­zusam­men­hänge: die Anziehungskraft der Menschen auf­ein­ander und das innigste Zusam­­men­gehören, das Menschen füreinan­der spüren und sich im Leben schenken; und das Vermögen und Verfü­gen, die Macht zu gestalten, die wir selber ausüben können: Pass auf, dass du nicht Schönheit und Ansehen, Erfolg und Vermögen deines Nachbarn an dich reißen musst! Doch wie gelingt uns solches Aufpassen? 

Wie wird es leicht, nach den Geboten zu leben? Wie überwinden wir den Vorbehalt, dass die Ge­bote uns gängeln, uns arm und verklemmt, statt reich und frei ma­chen?

Die Zehn Gebote sind der bekannteste Teil der jüdischen Tora, dem Gesetz des Bundes Gottes mit seinem Volk Israel. Da lässt es uns auf­horchen, wenn der Apostel Paulus an die Galater schreibt, was wir eben in der Lesung gehört haben: „Wenn ihr euch vom Geist führen lasst, dann steht ihr nicht unter dem Gesetz“. Und nachdem er aufge­zählt hat, was alles die Frucht des Geistes ist, sagt er noch einmal: „gegen all das“ widerspricht „das Gesetz nicht“.

Der Heilige Geist führt uns heraus aus dem inneren Konflikt: Ich weiß, was gut wäre, ich tue es aber nicht. Ich will das Gute tun, schaffe es aber nicht, das Schlechte zu lassen. 

Diesen Konflikt zeich­net der Apostel sehr scharf, und er benennt dafür zwei Antipole, die sich strikt abstoßen: Wo das eine ist, kann das an­dere nicht sein: Das „Fleisch begehrt gegen den Geist, der Geist ge­gen das Fleisch“. Sie sind „einander entgegengesetzt“

Und darum sagt der Apostel zu Beginn: „Wandelt im Geist, dann wer­det ihr das Begehren des Fleisches nicht erfüllen!“ 

Die beiden Begierdegebote der Zehn Gebote werden also von Paulus bestätigt: Wenn der Heilige Geist dich regiert, wenn du ihn empfängst und ihm Raum gibst in deinem Leben, dann gelingt es dir, nicht zu be­gehren nach Frau oder Mann, nach Hab oder Gut deines Nächsten.

Ja noch mehr: dann gelingt es dir, wirklich frei zu leben ohne schmerz­li­ches Begehren, das anfängt über dich zu herrschen.

Wie aber, so möchte ich jetzt fragen, wie schafft der Heilige Geist das? Warum ist gerade das eines seiner schönsten Kennzeichen: uns frei zu machen von den Begierden, dem Habenmüssen?

Die Begierden haben es psychologisch alle zu tun mit einem Mangel­empfinden. Ich habe zu wenig. Ich muss verzichten, worauf ich nicht verzichten will. Ich kriege nicht genug von dem, was mir zusteht.

Sol­chen Mangel-Schrecken kann der Heilige Geist vollkommen auf­wiegen und auflösen. Nicht aus sich selbst, sondern aus dem, der ihn sendet. Jesus sagt: „Wenn der Beistand kommt, den ich euch vom Va­ter aus senden werde, den Geist der Wahrheit, der vom Vater ausgeht, dann wird er Zeugnis für mich ablegen. […] Er wird von dem, was mein ist, nehmen und es euch verkünden.“

In einem Lied zu Christi Himmelfahrt singen wir, was eines der letzten Worte Jesu am Kreuz war: Es ist vollbracht: „Sein Werk auf Erden ist vollbracht, zerstört hat er des Todes Macht“.

Der Heilige Geist kann darum aus dem Vollen schöpfen. Und zwar aus dem, was Jesus vollbracht hat: Er war ohne Gewalt. Er war ge­recht und ohne Lüge. Er hat die Kranken geheilt. Er hat die Armen zu sich gerufen. Er hat die Liebe bis zum letzten Atemzug durchgehalten. Er hat das Böse und die Lahmheit und Gleichgültigkeit der Menschen unendlich überboten und genug getan in allem, was wir nicht genug tun. Er hat sein ganzes Menschsein ununterbrochen in Kontakt und im Austausch mit Gott seinem Vater gelebt. Er hat sich selbst gegeben und darin den Tod und die Gewalt der Menschen auf sich einschlagen lassen. In all dem hat er uns Gott ausgelegt: So ist der Vater - so und noch größer. Das ist die Wahrheit, die Wahrheit Gottes für euch, mit euch, in mir für euch. Dahinein führt euch der Heilige Geist, das trägt er von mir zu euch und von euch zum Vater. Ein Geben und Nehmen, das nicht mehr zerbrochen und zerstört werden kann. Ohne Begehren, in Freude und in Fülle: wer es kennen gelernt hat, sehnt sich danach, dass es nie aufhört, sondern immer bleibt und mehr wird immer mehr. Denn Gott ist unauslöschlich das Ziel und die Erfüllung aller Sehn­sucht, aller Freude, aller Schönheit.

Ja, Christi Werk auf Erden ist vollbracht. Daraus schöpft der Heilige Geist immer neu für alle Generationen. Und darum ist seine Frucht das Gegenteil von Gier und Maßlosigkeit. Der Apostel zählt alle diese zer­störerischen und unglücklich machenden Werke der Begierde auf: Un­zucht, also sexueller Missbrauch oder sexuelle Gewalt, Unreinheit im Reden und Handeln, Aus­schweifung, Götzendienst, Zauberei, Feind­schaf­ten, Streit, Eifer­sucht, Jähzorn, Eigennutz, Spaltungen, Partei­un­gen, Neid, maßloses Essen und Trinken und Ähnliches mehr. All das kommt aus dem Gefühl von Mangel, Leere, Begehren, das gestillt werden muss, indem ich selbst es durchsetze, weil ich überzeugt bin, sonst der Dumme zu sein, zu kurz zu kommen, betrogen zu werden.

Der Heilige Geist ist völlig frei von diesem dunklen Begehren und Misstrauen. Er kennt keinen Mangel, kein eigenmächtiges Begehren. Er kommt aus der Fülle der Liebe Gottes im Vater und im Sohn. 

Des­halb sind die Wirkungen des Geistes alle so, dass niemand über­fordert, niemand um seinen Anteil gebracht wird. Wozu er an­treibt, was er zu­stande bringt in uns, das erweist sich als an­ge­nehm, als leicht, er­lö­send, tröstend, satt machend, er lässt die Seele hell und zu­ver­sicht­lich werden, macht Lust zu beginnen, mit anderen zu­sam­­men­zu­wir­ken, und stiftet ganz tief das Vertrauen, dass alle Vor­räte, alle Kräfte, alle Zeiten und Fristen reichen werden. Nicht Misstrauen und Angst, dass es nicht reicht, sind sein Geschmack, son­dern: Ver­trau­en, Weiter­ge­hen, Neuwerden.

All das führt zu den Früch­ten, die er hervorbringt, wie sie der Apostel aufzählt: Liebe, Freude, Frie­den, Geduld­ha­ben, Freund­lichsein, Gü­tigsein, Treusein, sanftmütig vorgehen, ent­hal­t­­­sam sein von allem, was falsch und zuviel wäre.

Schwestern und Brüder, von diesen Früchten zehrt die ganze Kirche, aber über sie hinaus die ganze Welt der Menschen. 

Schauen wir in unsere Zeit: wieviel Misstrauen, wieviel Polarisierung, wieviel Streit und Aggressivität. Wieviel Ungleichheit und Unrecht. Wieviel verbissenes Begehren und Habenmüssen.

Das Pfingstfest fordert uns heraus: Wovon lasse ich mich anstecken? Ist das Werk Jesu, das vollbracht ist, unsere gemeinsame Zuversicht, unser Glaube, unsere Erwartung? Dann wird der Heilige Geist in uns wirken und seine Wunder vollbringen. 

Wie damals am Pfingsttag, als alle zusam­men waren am selben Ort. Zungen wie von Feuer zeigten an, wer das Werk Jesu, das vollbracht ist, bezeugen kann, wie Jesus gesagt hatte: „Und auch ihr legt Zeugnis ab, weil ihr von Anfang an bei mir seid“

Das Wunder aber ist nicht allein das Feuer, nicht allein das freimütige Re­den, nicht das Brausen und die Sensation, die die Menge zusam­men­­strömen lässt. Sondern das Hören ist das Wunder. 

Alle diese vielen verschiedenen Menschen hören und verstehen in ih­ren Sprachen das­selbe: Gottes große Taten werden da vernehmlich, werden glaubwürdig und anziehend: nicht Mangel und Begehren, son­dern Fülle und erwar­tungsvolles Staunen. 

Und aus dieser Menge entsteht nicht eine uniforme Armee, die die Welt erobern will, sondern an Pfingsten formt sich die Kirche, die vielfältig bezeugt, was Gott in Jesus getan hat für alle.

Das Pfingstfest stellt uns vor die ernste Frage: Wollen wir eine ver­bis­sene, misstrauische, in sich rivalisierende Kirche sein oder werden wir dem Geist trauen, der uns in vielen Sprachen Jesu Werk weitertra­gen und aus dem Vollen schöpfen lässt?

Paulus sagt: „Wenn wir im Geist leben, dann lasst uns“ dem Geist auch folgen! Amen. Halleluja.