Unbequeme Fragen

Fragen (c) Bild von Gerd Altmann auf Pixabay
Datum:
Do. 30. Apr. 2020
Von:
Pastoralreferent Dietmar Jordan

Schon einige Tage beschäftigt mich ein vielbeachtetes Interview, das Wolfgang Schäuble am 26.4. dem Berliner Tagesspiegel gegeben hat. Darin verbindet er seine verfassungsrechtliche Einschätzung der aktuellen Krisen – Politik mit einer sehr persönlichen Sicht der gegenwärtigen Krise. Das Echo bewegte sich – wie kaum anders zu erwarten – zwischen lobender Zustimmung und entschiedenem Widerspruch.

Der Bundestagspräsident äußert sich kritisch zur Ansicht vieler, angesichts der Pandemie müsse der Staat vorrangig den Schutz des Lebens gewährleisten, alles andere habe sich dem unterzuordnen. Wörtlich sagt er: „Das ist in dieser Absolutheit nicht richtig. Grundrechte beschränken sich gegenseitig. Wenn es überhaupt einen absoluten Wert in unserem Grundgesetz gibt, dann ist das die Würde des Menschen. Die ist unantastbar. Aber sie schließt nicht aus, dass wir sterben müssen.“

Nicht nur bei mir hat Schäuble damit einen wunden Punkt getroffen. Die von ihm erinnerte verfassungsrechtliche und anthropologische Wahrheit bleibt eine Zumutung, die auch ich nicht gern höre und lieber verdränge. Denn natürlich ist auch mein Alltagsverhalten derzeit in starkem Maße von der (Vor-)Sorge um die eigene Gesundheit und das Leben meiner Lieben bestimmt. Dabei hatte mich schon der Wiener Jesuit Gustav Schörghofer aufgeschreckt: „Das Höchste ist die Hingabe des Lebens, nicht seine Bewahrung. Christen glauben an einen Gott, der sein Leben hingegeben hat, nicht bewahrt.“ Dieser Geist sei es, der europäische Kultur nachhaltig grundiert habe und wieder prägen müsse. So las ich am 2. Sonntag der Osterzeit und fühlte mich schon damals provoziert, - frei nach dem Motto: Richtig gesagt, aber tatsächlich gelebt …?!  Auch Schäubles vielleicht zugespitzter Hinweis stößt in mir mehr Fragen als Antworten an; eine Nachdenklichkeit, die gedanklich und emotional weiter in mir rumort.

„Der Staat muss für alle die bestmögliche gesundheitliche Versorgung gewährleisten. Aber Menschen werden weiter auch an Corona sterben.“ Bei allem Respekt vor dem Rat der medizinischen Experten müsse der Primat des Handelns letztlich bei der Politik liegen. Sie komme nicht daran vorbei, auch weiterhin nach bestem Wissen und Gewissen zu entscheiden – und das im vollen Bewusstsein, unterschiedliche berechtigte Güter und Werte abwägen zu müssen und dabei vermutlich nicht allen gerecht werden zu können.

Schäubles Äußerungen fallen in eine Situation, die höchst unübersichtlich ist. Kaum jemand kann seriös einschätzen, wie es wirklich weitergeht. Vielleich kann man auch deshalb beobachten, wie Unsicherheiten, Ängste und Aggressivität fast allerorts zunehmen. Nach einer Zeit der (fast) geschlossenen Akzeptanz des Shutdowns spaltet dieser jetzt zunehmend die Bevölkerung in Menschen, die mehr oder weniger an der Krise zu leiden haben. Rentner oder im öffentlichen Dienst Beschäftigte können gelassener abwarten, während andere um ihre materielle Existenz bangen. Viele jetzt schon Arme werden noch ärmer, während manche sogar von der Krise profitieren. Und am Horizont drohen die Kosten einer globalen Rezession. Kommt es schlecht, müssen wir damit rechnen, dass es für fast alle wirklich schwierig und eng wird. Auch für uns als Kirche!

Angesichts all dieser Herausforderungen bin ich Wolfgang Schäuble dankbar, dass er mit seinem Interview einige sicherlich unbequeme, aber unvermeidliche Fragen ins Gespräch gebracht bracht. Eine der Wichtigsten lautet: „Welches Maß an Menschlichkeit können wir, welches wollen wir uns leisten? Und zwar nicht nur gegenüber potenziell gesundheitlich besonders Betroffenen, sondern auch gegenüber jenen, die unter den gegenwärtigen Bedingungen anders leiden als Corona-Patienten im Krankenhaus?“ – Meine persönliche Antwort ist ganz klar: Das für alle Größtmögliche!

Vor den damit verbundenen gesellschaftlichen Aufgaben erscheinen unsere aktuellen Kirchensorgen um hygienegeschützte Gottesdienste und andere „Luxusprobleme“ eher selbstbezogen und verzwergt. Als Christ*innen und als Kirche kommen wir dennoch nicht an ihnen vorbei. Die spannende Frage wird sein, ob wir in diesen Diskursen Inspirierend – Glaubwürdiges beizutragen haben – geistlich und praktisch.

Dabei kann uns eine Haltung motivieren, die ich – einmal mehr – dem Kontext ignatianischer Spiritualität entnehme. Am 17.11.1944 fanden sich auf einem Kassiber, den man aus seiner Gefängniszelle in Berlin – Tegel herausgeschmuggelt hatte, die folgenden Worte Alfred Delps:

Das eine ist mir so klar und spürbar wie selten:
Die Welt ist Gottes so voll.
Aus allen Poren der Dinge quillt er gleichsam uns entgegen.
Wir aber sind oft blind.
Wir bleiben in den schönen und bösen Stunden hängen
und erleben sie nicht durch bis an den Brennpunkt,
an dem sie aus Gott herausströmen.
Das gilt für alles Schöne und auch für das Elend.
In allem will Gott Begegnung feiern
und fragt und will die anbetende, hingebende Antwort.
Die Kunst und der Auftrag ist nur dieser,
aus diesen Einsichten und Gnaden
dauerndes Bewusstsein und dauernde Haltung zu machen
und werden zu lassen.
Dann wird das Leben frei in der Freiheit, die wir immer gesucht haben.