Tagesordnung

Tagesordnung (c) Bild von Sabine van Erp auf Pixabay
Datum:
Mi. 13. Mai 2020
Von:
Pastoralreferent Dietmar Jordan

Wie in einem Brennglas verdichtet sich in diesen Tagen eine Beobachtung, die sich schon während des bisherigen Verlaufs der Corona – Krise immer wieder gezeigt hat: Wie alle Religionen ist auch der christliche Glaube nicht einfach aus sich heraus heilsam und gut, menschen- und lebensfördernd. Im Gegenteil! Auch er hat ein mitunter doppeltes, durchaus zwiespältiges Gesicht. Und er kann in seiner Wirkung auf Menschen, Gesellschaft und Welt höchst verstörende und destruktive Energien entfalten. Weil das so ist, können und werden Religionen so gerne zur Überhöhung und Befeuerung politischer und schlicht menschlicher Gegensätze und Interessenkonflikte in Anspruch genommen und instrumentalisiert. Frei nach dem Motto „Gott will es – so und nicht anders!“

Dieses Grundmuster aktualisiert sich auch in den aktuellen gesellschaftlichen Debatten um die Anhänger*innen vermeintlicher Verschwörungstheorien, die dem bisherigen Corona – Krisenmanagement systematische Freiheitsberaubungen vorwerfen. Eigentlich beschämend und traurig, dass wir jetzt mit ansehen müssen, wie solche von Angst und Wut besetzten Schreckensszenarien (die im Einzelfall vielleicht sogar nachvollziehbar sind) jetzt auch von höchsten kirchlichen Würdenträgern befeuert und für durchsichtige Interessen in Anspruch genommen werden. Ich lasse mich da nicht täuschen: Was da als Verteidigung christlicher Überzeugungen und kirchlicher Grundrechte auftritt, ist nichts anderes als wütendes Nachkarten einiger ehemals mächtiger „Kirchenfürsten“, die die Entwicklungen einer freiheitlichen Moderne und ihre unvermeidlichen Auswirkungen bzw. Transformationen auf und in der Kirche offensichtlich weder intellektuell noch (lebens-) praktisch verkraften. – Wie gesagt: Nicht alles, wo Religion bzw. Christentum „drauf“-steht, wirkt per se heilsam, menschenfreundlich und dienlich. Das gilt für die Glaubenspraxis einzelner Christenmenschen. Und das gilt natürlich auch im Ringen um glaubwürdige und zukunftsfähige Sozialformen unseres kirchlichen Lebens.

Dass Religionsgemeinschaften und ihre spirituellen Vollzüge im Rahmen des Krisenmanagements (zunächst) nicht als sonderlich „systemrelevant“ eingeschätzt wurden, hat vermutlich auch mit der öffentlichen Wahrnehmung ihrer Ambivalenzen und Risiken zu tun. Offensichtlich sahen Politiker*innen und Behördenvertreter (auch in Aachen) uns zunächst einmal als eine Art „Risikophänomen“, das man gerade an hohen Feiertagen „kontrollieren“ und in seinen möglichen schädlichen Wirkungen „eingrenzen“ musste. Und die Stimmen, ob man nicht auch in den Tagen der strengen Kontakteinschränkungen und der abgesagten öffentlichen Gottesdienste „Gott“ mehr gehorchen müsse als „dem Kaiser“ waren ja schon während des Shutdowns nicht zu überhören.

Womit wir wieder bei der brennglas-mäßigen Verdichtung ambivalenter, durchaus zwiespältiger kirchlich–christlicher Praxis wären. Die lässt sich in diesen Zeiten auch im Bereich von Glaubensvollzug und –kommunikation beobachten, in der Art, wie wir uns als katholische Kirche verstehen und zeigen, und in dem, was man geistliches Leben oder gemeinhin Frömmigkeit nennt. Auch hier zeigt sich eine höchst bunte Szene mit manchmal gegensätzlich anmutenden Ausdrucksformen und gelebten Überzeugungen. Und auch hier ist noch keineswegs ausgemacht, ob alles, was sich jetzt als unbedingt notwendig, angesagt oder trendy geriert, am Ende auch heilsam und förderlich, glaubwürdig und zukunftsfähig ist. Und auch das mit Blick auf den einzelnen Christenmenschen als auch auf unser kirchliches Leben als Ganzes.

Während die einen den „Ausfall“ priesterlich gespendeter Sakramente beklagten und spürbar an diesem Mangel litten, entdeckten und pflegten andere gerade in dieser Notzeit die kostbare Würde ihres Getauft- und Gefirmt–Seins und der damit empfangenen Gnadengaben und geistlichen Kompetenzen. Sinnenfällig dokumentierte sich das in höchst unterschiedlichen Bildern. Da zogen Priester in liturgischer Kleidung und mit der Monstranz segnend durch die Straßen (oder überflogen gleich einen ganzen corona–geplagten Landstrich). Da nahmen Priester ganz selbstverständlich ihre vermeintlich alleinige Segensvollmacht in Anspruch, um Palmzweige und Osterkerzen zu segnen und sie dann von Laienchristen unter die Leute bringen zu lassen. Da wurde Tag um Tag mehr oder minder solistisch (angeblich „stellvertretend“) Messe gefeiert und eifrigst in die häuslichen Wohnzimmer gestreamt. Andernorts saßen Familien, Paare oder Einzelne in ihren vier Wänden zusammen und feierten in ganz unterschiedlicher und oft sehr kreativer Weise häusliche Gottesdienste. Da wurde gemeinsam gebetet, in der Bibel gelesen, Gottes Wort und das Leben der Menschen besprochen, Palmzweige und Kerzen gesegnet, in Form einer Agape Brot und Wein geteilt, der Kranken und Verstorbenen gedacht, –  das alles ohne Pfarrer, nicht selten auch in „digitaler Communio“ und im wachen und erwachsenen Bewusstsein, als „Hauskirche“ echter und authentischer Teil dieser Diözesan- und Weltkirche zu sein.

Jetzt nach den Lockerungen der strengen Kontaktbeschränkungen zeigt sich erneut ein unübersichtliches Bild. Die einen betonen den absoluten Vorrang öffentlicher Eucharistiefeiern – und nehmen dabei viele, auch liturgisch problematische, Einschränkungen in Kauf und landen bei mitunter geradezu absurden praktischen Ausgestaltungen. Andere zögern noch und warten. Nicht wenige fragen: Und was ist mit all den gerade eingeübten und auch bewährten, so aufbauend erlebten Formen einer mündigen Hauskirchen-Spiritualität, mit den im häuslichen Kreis gefeierten Wort-Gottes-Feiern, den digital verbundenen Gebeten und geistlichen Feiern? War das alles nur „Notbehelf“? Oder ist das vielleicht schon ein Vorbote, zumindest ein Samenkorn, ein Keim, vielleicht ein Vorgeschmack einer zukünftigen Sozialgestalt von Kirche? Einer Kirche, die auch bei uns weniger Priester, weniger Hauptamtliche, weniger Geld, weniger Macht und Einfluss hat in einer individualisierten und säkularisierten Gesellschaft? Und dann: Wie bekommen wir die sich jetzt wieder aufdrängende Aufmerksamkeit um Fragen der Liturgie in eine vertretbare Balance mit den eigentlich vorrangigen Herausforderungen  gesellschaftlicher Diakonie: mit dem lebenspraktischen Gottesdienst in unseren offenen Jugendhäusern, in Schulen, in Arbeitslosenprojekten, in den Beratungsstellen, der Notfall- und Telefonseelsorge und in der weltweit gerade jetzt notwendigen Solidarität?

Über all das müssten wir jetzt in kleinen und großen Runden offen und wohl auch kontrovers nachdenken und sprechen. Und das allemal bevor wir allerorts wieder zur gewohnten Tagesordnung übergehen, bei der ganz bald der Eindruck aufkommen wird als sei eigentlich kaum etwas geschehen. Für solche offenen Gespräche braucht es Freimut, gegenseitigen Respekt und Vertrauen. Und es braucht v.a. die geistliche Gabe der „Unterscheidung der Geister“. Dazu hätten wir im spirituellen Schatz unserer kirchlichen Tradition eine ganze Reihe von bewährten Anregungen, Hilfestellungen und Werkzeugen. In den Spuren etwa eines Benedict von Nursia, eines Ignatius von Loyola, einer Madeleine Delbrêl oder einer Simon Weil wäre manch Wegweisendes zu entdecken und in die aktuelle Orientierung einzubringen.

Die am Ende alles entscheidende Frage ist, ob wir uns so viel UNTERBRECHUNG noch einmal zumuten und ob wir fähig sind, sie klug und geduldig zu gestalten. Wahrscheinlich machen wir jetzt auch kirchlich lieber „Business as usuell“…