Runter vom Abstellgleis

Pro Arbeit hat mit langzeitarbeitslosen Menschen vor der Wahl das Gespräch mit Politikern gesucht

Langzeit-Arbeitslose Nachicht (c) Andrea Thomas
Datum:
Di. 19. Sep. 2017
Von:
Andrea Thomas
„Wieso soll ich wählen gehen. Für mich ändert sich ja eh nichts“, Sätze wie diese bekommt Laura Berisch (25) öfter von ihren Kollegen bei Low-tech zu hören.
Langzeit-Arbeitslose (c) Andrea Thomas

 Doch das will die junge Frau nicht gelten lassen, für sie hat jeder eine Stimme, die zählt, auch Menschen ohne Arbeit. „Wenn ich mich nicht für Politik interessiere und nicht wählen gehe, kann ich auch nichts verändern.“ Das sieht auch der Vorstand des ökumenischen Vereins Pro Arbeit in der Städteregion so und hatte daher im Vorfeld der Bundestagswahl eine Gesprächsreihe mit Bundestagskandidaten aus der Region organisiert. „Wir haben überlegt, wie wir Menschen, die sich durch Arbeitslosigkeit ausgegrenzt fühlen, einbinden und unterstützen können, dass sie sich politisch interessieren und beteiligen“, erklärt Peter Brendel, Vorsitzender von Pro Arbeit.

An acht Terminen, verteilt auf die verschiedenen Träger von Qualifizierungs- und Beschäftigungsmaßnahmen und ihre Standorte, haben sich die Kandidaten von SPD, CDU, Bündnis 90/Grüne und „Die Linke“ den Fragen der Betroffenen gestellt, frei nach dem Motto „Mit den Menschen reden – nicht über sie“. Mehr als 380 Menschen ohne Arbeit konnten so erreicht werden. Insgesamt sind derzeit in der Städteregion 23 000 Menschen als arbeitslos gemeldet, 16 000 davon beziehen Hartz IV und 10 000 sind seit einem Jahr oder länger arbeitslos.

 

Wertschätzung durch sinnvolle Beschäftigungsmöglichkeiten

Wiederkehrende Themen bei den Gesprächen waren: der Mangel an bezahlbarem Wohnraum, die Situation und der Umgang mit Flüchtlingen (der zum Teil zu Konkurrenz zwischen den einzelnen Gruppen der Bedürftigen führt), die Befristung von Maßnahmen und das damit verbundene Gefühl, keine echte Perspektive zu haben und mit der Sorge um die Zukunft allein gelassen zu werden und – ein Punkt, der gerade auch den kirchlichen Initiativen und Trägern ein Anliegen ist, – Wertschätzung durch sinnvolle Beschäftigungsmöglichkeiten.

„Die Politiker kamen recht sympathisch rüber. Zum Teil waren sie allerdings nicht ganz so gut vorbereitet“, schildert Bernhard Pysik, derzeit in einer Qualifizierungsmaßnahme im Herzogenrather Nell-Breuning-Haus, seinen Eindruck. Dem Endfünfziger hat insbesondere die Perspektivlosigkeit bei jungen Arbeitslosen zu denken gegeben. Sich mit nicht einmal 20 Jahren schon aufgegeben zu haben, sei hart. „Viele sehen keine Perspektive für sich“, sagt auch Sabine Höhn, derzeit in einer Maßnahme bei der Wabe. Ihr selbst hätte der Austausch mit den Politikern Mut gemacht, dass es doch Perspektiven geben kann. Wie für Laura Berisch und Bernhard Pysik ist auch für sie Nichtwählen keine Option. „Das habe ich nie für mich in Frage gestellt.“

Alle drei fanden die Veranstaltungen sehr gut und auch den Austausch mit den Politikern. Es sei wichtig, sie auch mit ihrer Lebensrealität zu konfrontieren. Ihr Wunsch: wahrgenommen und ernstgenommen zu werden, und ein sozialer Arbeitsmarkt, der sich an den Bedürfnissen der betroffenen Menschen orientiert und ihnen wieder eine Chance gibt, ihr Leben selbst sichern zu können. Darin erfahren sie auch viel Unterstützung bei den Menschen, die sie in den Maßnahmen betreuen und begleiten, wie Sascha Horbach, im Sozialdienst der Wabe tätig. „Wir erleben täglich die Sorgen, Nöte, Ängste und auch den politischen Frust der Teilnehmer. Das sind alles tolle Menschen, denen ich eine Chance sehr gönnen würde.“ Es sei gut gewesen, über die Veranstaltungen Politiker einmal aus der Nähe zu erleben und sie mit den Fragen zu konfrontieren, die langzeitarbeitslose Menschen persönlich beschäftigen. Auch, wenn ihn erschreckt habe, wie distanziert zum Teil die Kandidaten der Lebenssituation dieser Menschen gegenüberstehen.

 

Der „Sorge vor morgen“ mit ehrlichen Antworten begegnen

Für Martin Pier, Referent im Büro der Dekane, war positiv „die Bereitschaft, in den Kontakt zu gehen“. Das Interesse auf beiden Seiten sei da, es sei eine Offenheit entstanden. Etwas, worauf sich aufbauen lasse, denn „es reicht nicht aus, nur eine Reihe von netten Gesprächen zu führen“. Um der „Sorge vor morgen“ zu begegnen, brauche es ein dauerhaftes Instrument, um den Druck aus der Situation herauszunehmen, und gescheite Arbeit, die auch wertgeschätzt werde. „Wir hatten mehrere Ziele, wir wollten beiden Seiten die Möglichkeit geben, einander kennenzulernen, zu sehen, dass das auch normale Menschen sind. Außerdem wollten wir die Themen, die unsere Teilnehmer beschäftigen, so wieder ein Stück nach vorne bringen und sie selbst motivieren, zur Wahl zu gehen“, fasst Peter Brendel seinen positiven Eindruck zusammen. Die Teilnehmer hätten schon gemerkt, wo sie klare und ehrliche Antworten bekommen hätten. Wobei sie es sympathischer fanden, wenn ein Kandidat sich nicht hinter Floskeln aus dem Wahlprogramm seiner Partei versteckte, sondern auch mal zugab, wenn er auf eine Frage keine Antwort wusste. Mit Sorge betrachteten die Teilnehmer der Gesprächsrunden die Tendenz unter einigen ihrer Kollegen, zwar am Sonntag zur Wahl zu gehen, dort dann aber eher extrem zu wählen. Wer sich abgehängt und von den etablierten Parteien nicht ernstgenommen fühle, neige dazu, empfänglich für simple Antworten und Parolen zu sein. „Da müssen wir aktiv Demokratisierung vorleben, sonst überrollt uns da etwas“, brachte Christina Hermann vom Nell-Breuning-Haus es auf den Punkt. Schon deshalb wollen die Träger kirchlicher Arbeitslosenarbeit gemeinsam mit Pro Arbeit auch nach der Wahl auf politische Bildung setzen. Nur wer mitreden kann, kann sich einbringen.

Wohnungsnot (c) Michael Grabscheit/pixelio.de
Abstellgleis (c) Rainer Sturm/pixelio.de