Erinnerungen

Holocaust Mahnmal Berlin (c) Bild von Markus Christ auf Pixabay
Datum:
Do. 7. Mai 2020
Von:
Pastoralreferent Dietmar Jordan

Mit dem 8. Mai jährt sich in diesem Jahr zum 75. Mal die Erinnerung an das durch die Kapitulation der deutschen Wehrmacht 1945 besiegelte Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa. In einer fast total von den Herausforderungen der Corona – Krise bestimmten Gesellschaft droht eine solche Erinnerung – wem will man´s verdenken? – notgedrungen an den Rand der öffentlichen Wahrnehmung zu geraten.

Auch medial fast unbemerkt haben die deutschen Bischöfe schon am 29.4. eine lesenswerte Erklärung zur Rolle ihrer Vorgänger in den Jahren des Zweiten Weltkriegs veröffentlicht. Damit machen sie deutlich, dass wir auch heute nicht daran vorbeikommen, uns mit der Rolle und mit den Verstrickungen katholischer Christen und ihrer Kirche im Unrechtsregime des Nationalsozialismus auseinanderzusetzen. Nach der – durch Corona mittlerweile unterbrochenen – Öffnung bisher nicht öffentlicher vaticanischer Archive haben Historiker erste offensichtlich neue Einsichten zur damaligen Rolle von Papst Pius XII. veröffentlicht. Auch das hat die Diskussion um die Verantwortung der Kirche neu belebt und deutlich gemacht, wie wichtig es ist, sich im Blick auf dieses schwierige Kapitel unserer Geschichte weiter „ehrlich zu machen.“

Nun ist das mit dem „Sich-Ehrlich-Machen“ so eine Sache in der katholischen Kirche. Wir haben es erlebt und wir erleben es immer wieder – gerade im Kontext des aktuellen Skandals um den sexuellen und auch geistlichen Missbrauch von Klerikern gegenüber Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Unsere Kirche tut sich schwer mit dem „Sich-ehrlich-machen“. Es fällt uns zumindest nicht leicht, anzuerkennen, dass auch in der Kirche Licht und Schatten fast immer zugleich existieren. Dass das so ist, hat – dies scheint mir eine wichtige Einsicht aus dem Ringen um die Aufarbeitung des Missbrauchsskandals zu sein –  auch zu tun mit den religiösen Idealisierungen und mit den zum Teil steilen und ziemlich weltfernen Überhöhungen unseres kirchlichen Selbstverständnisses. Solche Idealisierungen und Überhöhungen unseres Kirche-Seins prägen unser Selbstverständnis und sie wirken auf unser Denken und Handeln.

Nach meiner Einschätzung gibt es deshalb auch einen Zusammenhang zwischen einer theologisch problematischen Überstilisierung der Heiligkeit der Kirche und dem Umgang mit den dunklen, religiös gesprochen sündigen Seiten unseres kirchlichen Lebens und unserer kirchlichen Vergangenheit. In der heiligen Kirche scheint die Realität von Sünde und Schuld eine erhebliche Paradoxie, eine mitunter erschütternde und verstörende Herausforderung zu sein. Die „Kirche der Sünder“ und eine „sündige Kirche“ sind eben nicht einfach schiedlich – friedlich voneinander zu trennen.

Wie gesagt: Uns Katholiken und unserer Kirche fällt es nicht leicht, angesichts vielfältiger und oft subtiler Verstrickungen auf diese dunkle, auch schuldbehaftete Vergangenheit zu schauen. Es fällt uns nicht leicht, anzuerkennen, dass die Dinge offensichtlich komplexer und komplizierter sind als lange geglaubt und nicht selten mit ideologisch geprägtem Eigeninteressen nach außen verlautbart: Die katholische Kirche als „Bollwerk des Widerstands“ gegen den Nationalsozialismus, als einzige moralische Größe, die die Wirren und Abgründe dieser unseligen Zeit halbwegs unbeschadet überstanden hat … !?

Stattdessen lehrt uns der Stand kritischer Forschungen: Das Denken und Handeln katholischer Christen und ihrer Kirche gegenüber dem Nationalsozialismus war keineswegs eindeutig und vielfach zwiespältig. Kirche und Christen waren Teil der damaligen Gesellschaft – und sie waren, zumindest in einzelnen Personen und Gruppen, auch so etwas wie ihr oppositionelles Gegenbild. Ganz offenbar gab es Distanz und Nähe zugleich – oft in denselben Personen; ein komplexes Neben- und manchmal auch Gegeneinander handelnder Persönlichkeiten; Anpassung und Mitläufertum; ein Ringen um Kompromisse und Koexistenz; der Kampf ums Überleben kirchlicher Lebensformen. Aber eben auch: Klare Distanzierungen, von Beginn an und manchmal und umso entschiedener erst später; Einsicht und Umkehr; mutiges Widerstehen; entschiedener Einsatz für Verfolgte – nicht selten um den Preis von Kopf und Kragen, von KZ – Haft, Folter und Tod …

Uns Heutigen steht es m.E. nicht zu, diese Menschen und ihre je persönlichen Wege mit dem Wissen und den Maßstäben von heute zu beurteilen. Da frage sich jede und jeder: Wie hätte ich denn gehandelt – in einer solchen Lage, unter solchen Umständen …?  An uns ist es, diese Lebenswege und Ereignisse zu verstehen, sie ernst- und anzunehmen als eine Wahrheit unserer Geschichte, eine Wahrheit unseres Volkes, eine Wahrheit unserer Kirche. Die zeigt sich als bleibende Zumutung von Ambivalenzen, die sich nicht einfach auflösen lassen. Das Leben und auch die Geschichte muten uns das Aushalten solcher Widersprüche zu: Distanz und Nähe zugleich?! Ein solcher Umgang mit unserer Vergangenheit ist anspruchsvoll und gewiss nicht immer einfach. Er bleibt ein Stachel im Fleisch unserer Gesellschaft und erst recht unserer Kirchen. Und er markiert eine bleibende Aufgabe: Aus der Geschichte zu lernen, ethisch – religiöse Maßstäbe zu gewinnen und praktisch – politische Impulse für die Gestaltung unserer heutigen Gesellschaft und Welt. 

Davon erzählt auch eine Lernerfahrung, die Bischof Johannes Joseph van der Velden zugeschrieben wird, der 1943 – 1954 unsere Diözese leitete. In seinem Auftrag kaufte das Bistum nach Kriegsende das zerbombte Aachener Anwesen „Haus Eich“ und errichtete dort ein Schülerheim und eine Schule (das heutige Pius – Gymnasium). Zu dieser Einrichtung sollte auch eine eigene Kapelle gehören, in der sich Schüler, Lehrer und Erzieher zu Gottesdienst und Besinnung versammeln konnten. Mit der Gestaltung der Fenster wurde der Künstler Ludwig Schaffrath beauftragt. Bischof van der Velden wünschte ausdrücklich, dass dabei die alttestamentliche Erzählung von den drei Jünglingen im Feuerofen (nachzulesen bei Daniel 3, 1-97) künstlerisch ins Bild gesetzt würde. Er tat das nicht zuletzt mit dem Blick auf seine während der Nazi – Zeit gewonnenen Erfahrungen als Christ und Bischof. Und er verband damit den Wunsch, Schule und Internat und v.a. die dort lebenden jungen Menschen mögen sich auf und für ihren zukünftigen Weg an diesem Bild orientieren und von dort her Maß nehmen für ihre eigene Lebenspraxis.

Jede und jeder mag seine eigene Antwort auf diese Geschichte geben. Als Kirche kommen wir angesichts der nach wie vor aktuellen Herausforderungen des in Europa umgreifenden Rechtspopulismus um eine gemeinsame Stellungnahme nicht herum.