Gedanken zur Ausstellung #missbrauch

2023_03_07_Greco_cs_n (c) Chr. Simonsen
Datum:
Do. 9. März 2023
Von:
Christoph Simonsen

Meine Gedanken, die ich mit Ihnen teilen möchte, nehmen wieder Bezug zu den Arbeiten von Rinaldo Greco, der uns in der österlichen Bußzeit mit seinen Bildern eine schwere Kost auferlegt.
Mitgefühl: Das ist die ureigenste Gabe und Aufgabe, die unserer christlichen Überzeugung erwächst. Ich lasse mich von dem Leiden eines anderen berühren. Berühren! Ich mache mir das Leiden der anderen zu eigen. Das Leid des/ der anderen, betrifft auch mich, trifft mich.
Schauen Sie sich nur die Kinder an, die Heranwachsenden auf den Bildern von Rinaldo Greco. Schauen Sie sich die Verkrümmungen an, die toten Augen, die kraftlosen Hände. Mich erschüttern diese Anblicke. Nein, hier geht es nicht um eine emotionale Effekthascherei; hier kann ich mich nicht entziehen. Ich fühle mich wie mit hineingenommen in dieses unvorstellbare Geschehen. Ich bin hilflos, ohnmächtig, gelähmt, aber ich kann nicht weglaufen, mich nicht entziehen. Ich bin nicht Zuschauer, ich bin Mit-Leidender, hilflos Mitleidender.

Da ist das Bild des Mädchens gleich am Eingang vor der Sakramentskapelle. Dieses in sich verkrümmte Mädchen, nackt, ganz sich selbst überlassen. Der Würdenträger hat sie einfach liegen lassen – im wahrsten Sinn des Wortes. Das widerwärtig Geschehene legt er einfach ad acta; er streift seine Soutane über, und dann ist er wieder die unantastbare Exzellenz, der mit Ehrfurcht und Respekt begegnet wird. So einfach ist das. So einfach kann ein Mensch seine wahre Identität verbergen – hinter einer frommen Fassade. Dass er die Mozetta vergisst, was solls.
Das Mädchen bleibt ohnmächtig zurück, schaut kraftlos ins Leere, nicht einmal der Glaube vermag ihr mehr Hoffnung und Zuversicht zu schenken. Das Kreuz liegt neben ihr auf dem Boden; da ist keine Energie mehr, es anzuschauen. Die toten Augen des Mädchens korrespondieren mit dem toten Christus am Kreuz. 

Die Bilder hier in der Citykirche laden ein – nein: fordern heraus, sich neu in die christliche Tugend des Mitleids einzuüben. Eines Mitleidens, das nicht ohne Konsequenzen bleiben kann, nicht bleiben darf. 
Mitgefühl: Das ist die ureigenste Gabe und Aufgabe, die unserer christlichen Überzeugung erwächst. Ich lasse mich von dem Leiden eines anderen berühren. Lassen wir uns von den verstörenden Bildern hier in der Citykirche berühren, von dem Leid derer, die – buchstäblich – in diesen Bildern aus dem Rahmen fallen, und werden wir intensiver lernfähig, Glaube nicht fälschlicherweise an Ämter zu binden.

 

Christian Morgenstern:
Das Auge der Maus

Das rote Auge einer Maus
lugt aus dem Loch heraus.

Es funkelt durch die Dämmerung ...
Das Herz gerät in Hämmerung.

»Das Herz von wem?« Das Herz von mir!
Ich sitze nämlich vor dem Tier.

O Seele, denk an diese Maus!
Alle Dinge sind voll Graus.