Ein weiterer Tag unseres von Einschränkungen und Auflagen geprägten Alltags!

leere Straße (c) Bild von Free-Photos auf Pixabay
Datum:
Di. 24. März 2020
Von:
Pastoralreferent Dietmar Jordan

Die Zahl der Infizierten und auch der Toten steigt weiter. Straßen und Plätze sind mittlerweile ziemlich leer. Die meisten Geschäfte bleiben geschlossen. Und es gibt klare Regeln, was noch getan werden kann und v.a. was bitte zu lassen ist.

Auf meinem täglichen Weg an der frischen Luft begegne ich nur wenigen Menschen. Und wenn es geschieht, halten wir gebührend Abstand. Kontakte mit Freunden oder zu auswärts lebenden Familienmitgliedern beschränken sich auf Gespräche am Telefon. Absprachen mit Kolleginnen oder Kollegen laufen per Mail. Meinen Tagesablauf, der sonst in gewohnten und eingeübten Bahnen läuft, muss ich jeden Tag irgendwie neu erfinden. Der Nachbar schiebt mittlerweile Kurzarbeit und macht sich Sorgen, wie es finanziell weitergeht. Ich kenne Familien, deren Miteinander auf eine harte Probe gestellt wird und deren Nerven jetzt öfter blank liegen. Nein, es wundert mich nicht, wenn angesichts der momentanen Herausforderungen auch von einer Zunahme häuslicher Gewalt berichtet wird. Einigermaßen entsetzt höre ich, dass in unserem örtlichen Krankenhaus wichtige Vorsorge- und Schutzmaterialien zur Neige gehen. Und ich staune über die fleißigen Hände, die mittlerweile in ehrenamtlicher Heimarbeit Atemschutzmasken nähen. Die Corona - Krise hat viele Gesichter: erschreckende, die mir Angst machen, aber eben auch beeindruckende, die mich ermutigen, weil gerade jetzt viel Menschlichkeit und Solidarität erfahrbar wird.

Im Bücherregal meines Arbeitszimmers, das ich jetzt häufiger als sonst als Home – Office nutze, steht ein Glasgefäß, das mit Sahara – Sand gefüllt ist. Mein Sohn hat ihn von einer Reise in eine der Wüsten Nordafrikas mitgebracht. Heute erinnert mich dieses Sandgefäß an das Evangelium (Matthäus 4, 1-11), das uns die Leseordnung unserer Kirche am 1. Fastensonntag quasi als Wegweiser in die österliche Bußzeit vorgestellt hat. 40 Tage wird Jesus nach seiner Taufe im Jordan in die Wüste geführt und – wie es heißt – „vom Teufel versucht“. Ähnliches wird in der Bibel auch von anderen großen Gestalten des Glaubens erzählt. 40 Jahre dauerte die Wüstenwanderung des Volkes Israel. 40 Tage fasteten Mose auf dem Berg Sinai und Elija auf dem Weg zum Gottesberg Horeb.

Anders als bei meinem Sohn und bei vielen modernen Ausflugsnomaden werden das keine touristischen Events gewesen sein. Wenn die Bibel von der Wüste erzählt, dann hat sie geistliche Erfahrungen ganz eigener Art vor Augen: Zeiten der Entbehrung, der Einsamkeit, der Klärung und der Bewährung. Schon für die Einsiedler der frühen Christenheit war die Wüste ein Ort der Dämonen, ein Platz, an dem das Dunkel sich herumtreibt, ein Abgrund, an dem das Böse nach dem Menschen greift. Die geistliche Tradition kennt die Wüste als Ort, in dem Menschen aufs Äußerste herausgefordert sind, als Erfahrung, die die wahren Prioritäten und die wirklich tauglichen Kräfte des (Über-) Lebens freilegt.

Für glaubende Christen früherer Generationen war die Fastenzeit immer auch Wüsten – Zeit. Diese Tage und Wochen vor Ostern waren geprägt von Erfahrungen der Reduzierung und des Verzichts; nicht als Selbstzweck, sondern um eines größeren Zieles willen mit der Ahnung und Vorbereitung einer neuen, österlichen Weite. Die oft strengere Fastenpraxis unserer muslimischen MitbürgerInnen führt uns das heute manchmal beschämend vor Augen: Solche Erfahrungen des Verzichts, solche Zeiten der Leere und der Entbehrung können heilsame Kräfte freilegen. Und sie können uns neu lehren, dass wir unser Leben in einem großen und tiefen Geheimnis bergen dürfen. 

Es mag Zufall sein, dass die Krise des Coronavirus ausgerechnet in die Tage und Wochen der christlichen Fastenzeit fällt und dass auch der islamische Ramadan von ihr betroffen ist. Ist es gewagt, angesichts dieses Zufalls geistlich ein Stück tiefer zu schauen? Dürfen wir den Zufall, die zeitliche Gemeinsamkeit der gegenwärtigen Krise mit den Fastenzeiten zweier großer Weltreligionen als Anruf und als geistliche Herausforderung verstehen? Ist diese von einem Virus ausgelöste Krisenzeit vielleicht auch eine uns zugemutete wirkliche Fastenzeit? Führt sie uns auf eine sehr reale Weise in die Wüsten der Entbehrung, der Erprobung und Bewährung?

„Wo Gefahr ist, wächst auch das Rettende.“ So hat es Hölderlin einmal gesagt. Und so haben es Gott – SucherInnen aller Zeiten immer wieder erfahren. In den Krisentagen dieser Fastenzeit mag ein solcher Gedanke fremd und provozierend anmuten. Er könnte trotzdem eine Chance in sich bergen und einen Anruf. Ihn zu hören, könnte uns helfen, diese Krise nicht nur medizinisch, wirtschaftlich und politisch zu bestehen, sondern auch menschlich und geistlich in und an ihr zu wachsen.