Predigt von Bischof Dr. Helmut Dieser im Hohen Dom zu Aachen am 23. Januar 2022

Predigt von Bischof Dr. Helmut Dieser im Hohen Dom zu Aachen

am dritten Sonntag im Jahreskreis - C -, 23. Januar 2022 

L1: Neh 8, 2-4a.5-6.8-10; L2: 1 Kor 12, 12-31a; Ev: Lk 1, 1-4.4,14-21.

 

Es gilt das gesprochene Wort


Liebe Schwestern und Brüder,

Wie siehst du denn heute aus?, so fragen wir manchmal spontan einen ver­trauten Menschen. Entweder, weil er uns mehr als sonst froh und strah­lend vorkommt, oder umgekehrt, weil wir uns erschrecken, ob er viel­leicht krank oder voller Sorgen ist.

Ja, je nach Tagesform sehen wir anders aus, und unsere Mitmenschen merken das auch.

Nun, wie sehen wir denn heute aus?

Ich meine: hier in unserer Versammlung zum Gottesdienst am Sonntag im Dom? Und jede und jeder einzelne von Ihnen persönlich?

Strahlend wohl eher nicht, sondern vielleicht geprügelt wie ein Hund, dem man Verhaltensregeln beibringen will?

Oder zornig, weil bitter enttäuscht?

Oder einfach nur entsetzt und traurig und leidend und zweifelnd?

Sie wissen, worauf ich anspiele: auf die Veröffentlichung des Gut­ach­tens im Erzbistum München und Freising am vergangenen Donners­tag, das dieselbe Kanzlei erarbeitet hat wie im November 2020 das Gutachten für unser Bistum.

Die Eindrücke von dieser Veröffentlichung, die ersten Recherche­er­gebnis­se des Gutachtens und die Reaktionen darauf in der Öffent­lich­keit lassen keinen von uns heute unberührt. Alle Gefühlslagen, die ich gerade beschrieben habe, können auch bei uns vertreten sein.

Ich möchte von mir sagen: Mich bestürzt und macht traurig, aber auch wütend, wie unabsehbar das ganze Ausmaß der Einzelschicksale ist, und damit untrennbar verbunden auch das Ausmaß von Versagen der Führung, die bei den Bischöfen und ihren Verwaltungen lag und liegt. Und darüber hinaus die Unfähig­keit, die eigene Verantwortung bei sich selbst zu spüren und Schuld einzugestehen und Vergebung zu er­bitten oder wenigstens Bedauern und Schmerz über den eigenen An­teil an der Tragödie auszudrücken.

Dass auch der frühere Papst Benedikt das noch nicht getan hat, darf nicht sein letztes Wort dazu sein!

Es kann nicht dabei bleiben, dass Verantwortliche sich flüchten in Hinweise auf ihr Nichtwissen oder auf damalige andere Verhältnisse oder andere Vorgehensweisen. Denn deswegen wurden doch damals Täter nicht gestoppt und Kinder weiter von ihnen missbraucht!

Auch Bischöfe, auch ein ehemaliger Papst, können schuldig werden, und in bestimmten Situationen müssen sie das auch öffentlich beken­nen, nicht nur im Gebet vor Gott oder im Sakrament in der Beichte.

Denn es gilt, was der Apostel Paulus sagt: Der Leib besteht nicht nur aus e i n e m Glied, sondern aus vielen Glieder, die aber bilden alle e i n e n Leib. Und das eine kann nicht zum andern sagen: Ich brauche dich nicht. Und gerade die schwächer erscheindnen Glieder sind un­ent­behrlich. Und wenn e i n Glied leidet, dann leiden alle mit. 

„Gott aber hat den Leib so zusammengefügt, dass er dem benach­tei­lig­ten Gleid umso mehr Ehre zukommen ließ, damit im Leib kein Zwiespalt entstehe“.

Wer den Schwächsten geschadet hat, wer ihnen auch im Nachgang dazu die Ehre nicht zukommen lässt, die sie verdienen, und sich nicht entschuldigen kann, der wird auch noch schuldig an dem Zwiepalt, der so im Leib der Kirche entsteht. 

Ich wage es, Schwestern und Brüder, das alles so zu sagen, weil ich zwei Dinge nicht tue:

  • Zum einen: Ich bin nicht der Richter und spreche kein Urteil über andere. Wer keine Schuld bei sich sieht, der kann auch nicht dazu ge­zwun­gen werden. Aber die anderen können und müssen sich doch da­von distanzieren dürfen! 
  • Zum andern: Ich lasse es auch nicht einfach nur dabei, sondern suche in dieser Pre­digt darüber hinaus auch danach, was uns heute aus dem Wort Gottes an Orientierung geschenkt wird, an Hoffnung und an Trost für den ganzen Leib und alle seine Glieder, auch die schuldig ge­­wordenen.

Wie siehst du denn heute aus?, so habe ich begonnen. Dieses Wort heute kommt an diesem Sonntag zweimal in den Texten der Heiligen Schrift vor.

Esra lässt vor den Menschen die Heilige Schrift vorlesen und gibt dazu Erklärungen. Es sind die Heimkehrer, die aus der Katastrophe des Exils in Babylon zurückgekehrt waren. Sie hören vom Bund Got­tes, dass er treu ist und seine Liebe zu seinem Volk erneuern will, trotz allem, was geschehen ist, auch trotz des Versagens der politischen und religiösen Führungspersonen, das ja zum Verlust des eigenen Landes geführt hatte.

Und was geschieht? 

Die Menschen weinen. Sie werden traurig, weil sie das alles kaum noch glauben können, das so auch lange gar nicht mehr gehört hatten, und weil ihnen das alles so weit weg vorkommt von den realen armse­ligen Ver­hält­nissen, die sie angetroffen haben.

Vieles davon trifft auch unsere Situation.

Können wir noch glauben, dass Gott uns treu ist?

Können wir noch vertrauen, dass wir mit Gottes Hilfe gute Ent­wick­lun­­gen vor uns haben? 

Esra versucht, die Menschen zu trösten „Seid nicht traurig und weint nicht! […]; heute ist ein heiliger Tag zur Ehre unseres Herrn. […] denn die Freude am Herrn ist eure Stärke!“ 

Hoffnung kommt allein davon, dass Gott uns fragt: Wie seht ihr denn heute aus? Dass er also nicht aufhört, in die Zeit und in die Kirche hinein­­zuwirken. Dass er eine Gewichtsverlagerung anbietet: Freut euch an mir, das macht euch stark

Stark, um das Neue anzugehen, um nicht in der Trauer, in der De­pres­sion, in der Verweigerung hängen zu bleiben. Stark auch, um Wut und Enttäuschungen zu guten Energien werden zu lassen, die Verdorbenes wegnehmen und Richtiges herbei­führen wollen.

Die Freude am Herrn stiftet also auch eine Kraft zur Kritik, zur Unter­scheidung und zur Entscheidung. 

Und ich darf Ihnen sagen, dass ich solche Kräfte beim Synodalen Weg erlebe, bei den Themen, die wir dort diskutieren, und bei den Ent­schlüssen, wie wir für unsere Kirche herbeiführen wollen. 

Bitte beten Sie unaufhörlich um das Vorankommen und das gute Ge­lingen des Synodalen Weges in Deutschland!

Und das zweite Mal hören wir das Wort „heute“ aus dem Munde Jesu selbst im Evangelium: „Heute hat sich das Schriftwort, das ihr eben ge­hört habt, erfüllt“. Das sagt er, auch nachdem zuvor in der Syn­a­goge in Nazareth aus der Heiligen Schrift vorgelesen worden war. Und zwar aus dem Prophten Jesaja: die Armen erfahren die Frohe Botschaft: Gefangene werden frei, Blinde sehen, Zerschlagene ent­­fliehen ihren Peinigern. 

Und das beginnt heute. Und das endet nicht mehr, weil es das Gna­denjahr des Herrn ist, das Jesus ausgerufen hat.

Die Leute in der Synagoge reagieren darauf ganz anders als erwartet. Sie werden aggressiv. Sie grenzen Jesus aus, sie werfen ihm Anma­ßung vor. Er aber weiß, dass er das von Gott her zurecht sagt und tut und dass Gott selbst es durchsetzen wird durch ihn.

Schwestern und Brüder, das ist die größte und tiefste Quelle der Hoff­nung auch für das Leid der Missbrauchsopfer und gegen die Selbst­zer­stö­rung der Kirche, die von Verweigerung, Vertuschung und Un­wahr­haf­tigkeit kommt.

Denn Gott ist parteiisch und er steht auf der Seite der Leidenden, die um ihr Recht gebracht wurden!

Und wer immer Jesus das glaubt, dieses Heute, der findet die Kraft zur Kritik und zur Veränderung, auch zum eigenen Eingeständnis von Schuld und Versagen. Denn auch die Not unseres Versagens und un­serer Schuldenlast lädt Jesus sich auf die Schultern am Kreuz, um das ganze Gnadenjahr des Herrn zu vollziehen.

Dass es in der Kirche die Kraft zur Selbstkritik gibt und die Kraft zu Reformen und zu für heute besseren Wegen, das kommt daher.

Und darin liegt ein Trost auch für uns. 

Und ein Grund dankbar zu sein, denen, die das heute schon tun. Die sich um die Missbrauchsopfer kümmern, die sozial und caritativ wir­ken in unsere Kirche, die aus dem Geist Jesu prophetisch die Stimme erheben gegen Misstände und für die besseren Wege.

Ja, wir sind und bleiben e i n Leib. Aber nicht auf uns gestellt, son­dern: der Leib Christi und jeder einzelne ein Glied an ihm.

Und alle brauchen wir einander, gerade auch in dem Verschiedensein das wir füreinander sind und das wir füreinander tun. 

Der Apostel sagt: dass wir eben so dazu kommen, dass wir „einträch­tig füreinander sorgen“.

Amen.