Ansprache Ostermorgen:
Wir haben eben die Hüllen fallen lassen. Die beeindruckende Verhüllung, die Lukas Sünder uns geschenkt hat in der Zeit der Vorbereitung auf das heutige Osterfest, hat viele berührt. Dinge, die uns vertraut sind, waren zwar für fünf Wochen unseren Blicken entzogen; dafür waren wir und alle Gäste unserer Citykirche umarmt von leuchtenden Tüchern, die vielen ein Lächeln ins Gesicht gezaubert hat angesichts der Wärme und des Lichtes, die von den Tüchern ausgingen.
Die trübselige Zeit, in der der Winter noch da war, aber die Hoffnung auf Frühling schon aufblühte, da waren das die richtigen Signale, die uns die Installation vermitteln durfte: Mag es in der Welt auch dunkel sein, trostlos, ja: und oft auch so hoffnungslos, da tut die Erinnerung gut, dass es auch anders sein könnte.
Wirklichkeit kann ich nicht wegleugnen, nicht verdrängen; wer Wirklichkeit nicht ernst nimmt, der verliert sich in Träumereien und wacht irgendwann zerrissen auf. Wirklichkeit können wir nicht verdrängen; aber wer verbietet uns zu glauben, dass das Mögliche nicht auch wirklich werden kann, ja noch mehr, dass das Unmögliche Wirklichkeit wird. Nichts anderes bezeugt die österliche Botschaft. Was für alle Zeiten getrennt schien, kommt befriedet zusammen: Leben und Tod.
In der vergangenen Woche habe ich Heidi auf ihrem letzten Weg begleiten dürfen. Das Gespräch mit Gerd, dem Witwer, war für mich ein vorösterliches Geschenk. Er erzählte mir, dass er bei der Verabschiedungsfeier seinen Hochzeitsanzug tragen würde, den er vor 60 Jahren getragen hätte. Der würde noch passen und der sei noch gut. Und dann kam das Unverhoffte. Er lachte und sagte, dass er bei dem Trauspruch damals bei seiner Hochzeit die Finger heimlich überkreuzt hätte bei dem Satz: „ Ich will dich lieben, achten und ehren, bis das der Tod uns scheidet“. Und dann fügte er hinzu: „Das kann ich doch nicht versprechen; das ist doch völliger Quatsch. Die Liebe endet doch nicht mit dem Tod“.
Es gibt tausende und abertausende Traktate über das Geheimnis des Osterfestes. Aber diese eine Botschaft von Gerd fasst doch eigentlich alles zusammen. Liebe endet nicht, auch nicht mit dem Tod. Die Liebe zwischen Menschen, schon gar nicht die göttliche Liebe zu uns.
Eine solch österliche Gewissheit fällt allerdings nicht vom Himmel, die will erfahren, erlebt, erliebt sein.
Um sich nicht gefangen nehmen zu lassen von dem was ist, um sich nicht der Chance zu berauben, der Zuversicht und der Gelassenheit Raum zu geben im eigenen Leben, dass einen das Leben nicht zu ängstigen braucht, dazu braucht es die Offenheit, sich nicht vom ersten Blick täuschen zu lassen und einem erneuten, vertieften Blick eher zu vertrauen. Liebe auf den ersten Blick mag berauschen, ob sie trägt, ist nicht gewiss. Liebe, die, um das Bild von Gerd aufzugreifen, Liebe, die den Tod überdauern möchte, die lebt davon, sich immer wieder neu anzuschauen und darauf gefasst sein, Neues zu entdecken.
Jetzt sehen wir zum Beispiel wieder die schöne Frau mit dem Kind auf dem Arm hier in der kleinen Seitenkapelle. Ja, das ist Maria und Jesus. Mit diesem Wissen könnten wir uns zufrieden geben. Indem ich auf diese hölzerne Statue schaue, sehe ich in einem zweiten Blick aber auch die lebendige Mutter im Gazastreifen, die mit der gleichen Liebe ihr Kind auf dem Arm hält, umgeben von den Trümmern, die mal ihr zuhause waren.
Und mit diesem zweiten Blick ist eine Brücke gebaut, die Wirklichkeit und Möglichkeit verbindet: Die Wirklichkeit des Krieges und die Möglichkeit eines Friedens, der doch möglich sein müsste, wenn alle erkennen würden, wie zerbrechlich das Leben eines Kindes auf dem Arm seiner Mutter ist. Eigentlich müsste ich, müssten wir zerbrechen daran, denn nach allem Augenschein ist keiner da, der über diese Brücke zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit geht.
Wie dieser Ohnmacht entkommen? Sie nicht einfach wegschieben, sondern zu erspüren versuchen. Das Gefühl einer zu lähmen scheinenden Ohnmacht muss nicht unbedingt ohnmächtig machen. Aus einer tiefen Ohnmacht kann eine neue Kraft erwachsen: Die Kraft des Mitgefühls. Mitfühlen ist nicht nichts; Mitgefühl ist die kreativste Kraft, die uns steckt. Gott hatte Mitgefühl mit uns, und daraus erwuchs das Unmöglichste, dass man sich vorstellen kann, dass er sich nämlich seiner Menschlichkeit erinnerte, die ihn so göttlich macht.
Dem ersten Blick einen zweiten zutrauen und sich stellen: Seinen Gefühlen stellen, sich nicht erdrücken, erstarren, erkalten lassen. Das ist mein österlicher Wunsch an uns. Wie sagte Gerd: „Das ist doch Quatsch: Die Liebe endet doch nicht mit dem Tod“. Da hat er wohl recht, wenn wir uns heute einüben darin, Gott und die Welt zu lieben.