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31. Sonntag im Jahreskreis A // Zum Evangelium

Datum:
Fr. 3. Nov. 2023
Von:
Annette Jantzen

Darauf redete Jesus zur Menge und seinen Jüngerinnen und Jüngern. Er sagte: "Auf dem Stuhl Moses' sitzen toragelehrte und pharisäische Leute. Alles, was sie euch lehren, das tut und daran haltet euch. Aber haltet euch nicht an das, was sie tun, wenn ihre Worte nicht mit ihren Taten übereinstimmen. So binden sie schwere und unerträgliche Lasten zusammen und legen sie auf die Schultern der Menschen, selbst aber wollen sie sie nicht mit einem Finger bewegen. Alles, was solche Leute tun, ist darauf gerichtet, den Menschen ins Auge zu fallen. Sie machen ihre Gebetsriemen breit und vergrößern ihre Schaufäden; sie lieben den Ehrenplatz bei den Mahlzeiten und die Ehrenstühle in den Synagogen; sie lieben es, auf den Straßen begrüßt zu werden und von den Leuten Lehrer und Lehrerin genannt zu werden.
Ihr jedoch sollt euch nicht Lehrerin oder Lehrer nennen lassen, denn einer ist euer Lehrer und ihr untereinander seid alle Geschwister. Ihr sollt niemanden auf der Erde euren Vater oder eure Mutter nennen, denn allein Gott im Himmel ist für euch Vater und Mutter. Auch lasst euch nicht Erzieher oder Erzieherin nennen, denn nur einer ist euer Erzieher, der Messias. Die bei euch wichtig sind, sollen euch dienen. Alle, die sich selbst erhöhen, werden erniedrigt werden, und die, die andere nicht beherrschen wollen, werden erhöht werden."

(Evangelium nach Matthäus, Kapitel 23, Verse 1-12)

Blinde Flecke sind was Faszinierendes. Dass einem Menschen oder einer ganzen Gruppe von Menschen, nur einen Moment lang, ein Leben lang oder viele Generationen lang etwas nicht auffällt, was gleichzeitig elementar und offensichtlich ist: Wer an dieser Stelle keinen blinden Fleck hat, reibt sich die Augen und fragt sich vielleicht, wer hier wohl der Geisterfahrer ist. 

So geht es großen Teilen der Kirche mit diesem Text. Diesen Text darüber, dass es keinen besonderen Status in der Nachfolge Jesu geben soll, darf in der katholischen Kirche in der Messfeier nur vortragen, wer einen besonderen Status innehat, der für die nichtmännlichen Auchmenschen nicht einmal eine Option ist. Aber so ist das mit blinden Flecken, wenn man sie bemerken würde, wären es keine blinden Flecken. Man gewöhnt sich an vieles, und die Intuition des Kindes, das laut kräht "der Kaiser ist ja nackt!" - sie wird überlagert von Gewohnheiten, Nicht-in-Frage-Stellen, vom Sich-Einrichten, vom Angenehmen und von der Angst, was passieren würde, wenn man so einen Anspruch wirklich in das eigene Leben lassen würde, wenn man Jesus wirklich glauben würde, dass wir alle gleich sind. Vor über 150 Jahren hat Søren Kierkegaard diesen blinden Fleck trocken kommentiert mit dem bitter-ironischen Fazit: "Und da ist niemand, der lacht..." Noch viel bitterer aber ist, dass dieser Text, der doch der Balken im eigenen Augen hätte sein können, für antijüdische Hetze benutzt wurde. Es gibt Stellen, da darf man einfach keinen blinden Fleck haben, nie wieder.

Die "Bibel in gerechter Sprache" übersetzt hier übrigens den ersten möglichen Ehrentitel, nämlich "Rabbi", mit "Lehrer*in", und nach Vater/Mutter an dritter Stelle den Beruf "paidagogos" mit "Erzieher*in" - in der gewohnten Übersetzung heißt es an der ersten Stelle "Meister" und an der dritten "Lehrer". Vielleicht ist diese Übersetzung noch einmal ein Augenöffner - wer möchte schon gern als Erwachsene*r eine*n Erzieher*in haben? Eine selbst gewählte Lebenslehrerin, gern. Aber einen Erzieher? Lieber nicht. Hier wird noch einmal deutlich, welcher Anspruch damit verbunden ist, ohne Anerkennung durch die Gegenüber als deren Pädagog*in aufzutreten, und dass es lange gar nicht aufgefallen ist, als wie wenig mündig die Normalos (kirchlich gesprochen: das Volk) in der Kirche galten. Aber heute muss man sich Autorität eben verdienen, genauso wie man sich das Stellen moralischer Ansprüche durch entsprechendes Vorbild verdienen muss. Und es ist nicht im Sinne dieses Evangeliums, andere zu beherrschen, indem man die Herrschaft einfach als Dienst umlabelt. 

Was gäbe es sonst noch zu sagen von diesem Evangelium? Vielleicht dies: Dass die Bibel ein wunderbares Buch ist. Es ist einfach nicht totzukriegen. Vielstimmig, widersprüchlich, schillernd spricht es immer noch von Gott in dieser Welt, von Gott-der-Ewigen und Gott-der-Langmütigen, von Gott, die zürnt und von Gott, die lacht. Wir - diesmal wirklich wir - können es immer noch lesen, behutsam den Staub von den Seiten blasen und es neu sprechen lassen in diese unsere Wirklichkeit hinein. In unsere Arroganz und unsere unbewussten Privilegien, in unser Unvermögen und in unser Bemühen hinein. Und wir können uns neu in Anspruch nehmen lassen und ausprobieren, was passiert, wenn wir Jesus wirklich noch einmal neu zuhören. 

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