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2. Sonntag im Jahreskreis B // zur zweiten Lesung, wiedergelesen

Datum:
Fr. 12. Jan. 2024
Von:
Annette Jantzen

Vor drei Jahren habe ich mich bereits mit der Lesung aus dem ersten Korintherbrief (1Kor 6,13-20) beschäftigt, die sich mit der Frage von ausbeuterischen sexuellen Beziehungen befasst und deren Kernsatz ist: "Alle Sünden, die ein Mensch tut, sind außerhalb seines Leibes; wer aber Unzucht treibt, der sündigt am eigenen Leibe." Ich habe damals versucht, Verständnis für diesen Text zu wecken, indem ich beschrieben habe, in welchem Kontext sich Paulus hier eigentlich bewegt: Hier geht es nicht um eine moralische Bewertung von Sexualität, sondern um Reinheitsvorstellungen. Geht es bei vielen jüdischen Gesetzen um die Wiederherstellung körperlicher Reinheit nach Verunreinigung, so steht dabei die Vorstellung im Hintergrund, dass es um Kontakt mit der Grenze von Leben und Tod geht, wie sie Menschen im Menstruationsblut, in Samenflüssigkeit oder auch im Kontakt mit einem toten Körper nahekommt. Das Ritual, das rein macht, bringt den Menschen dann wieder auf die sichere Seite des Lebens. Paulus sieht diese Riten der Reinigung nicht mehr als nötig an, weil allein der Glaube an Jesus von Nazareth eine*n auf diese sichere Seite des Lebens bringt. Das hat aber zur Folge, dass eine "Befleckung" durch eine illegitime sexuelle Beziehung auch nicht mehr rituell bereinigt werden kann, sondern die Auferstehungsfähigkeit der Gläubigen gefährdet, weil sie die Hingabe der Person an Jesus Christus zurücknimmt. Darum formuliert Paulus auch, dass sexuelle Vergehen eine Sünde gegen den eigenen Körper bedeuten, nicht eine Versündigung an der dadurch geschädigten Person. Er zielt damit auf Männer ab, die Sex mit Prostituierten haben, und vertritt damit eine Haltung, die sich stark abgrenzt von der römischen Kultur der Antike, die von männlicher Sexualität geradezu besessen war und in der eine Selbstbeschränkung männlicher Sexualität nur eine Minderheitenposition einiger philosophischer Schulen war. 

Auch mit dieser Erklärung im Hinterkopf nehme ich dennoch heute viel schärfer wahr, wie verheerend diese Zeilen für die Sklavinnen und Sklaven unter den Gemeindemitgliedern gewesen sein müssen, denn versklavte Menschen gehörten sich auch in sexueller Hinsicht nicht selbst, sondern durften von Rechts wegen auch sexuell ausgebeutet werden. Hier ist damit ein frühes Beispiel für eine Predigt gegeben, die überhaupt nicht im Blick hat, was das Gesagte für Frauen, für Menschen in anderen Lebensumständen bedeutet, und ihr eigenes Verletzungspotential nicht erkennt. "Wisst ihr nicht, dass ihr euch nicht selbst gehört?", fragt Paulus (1Kor 6,19), aber er fragt das als rhetorische Frage aus der sicheren Position des freien römischen Bürgers heraus. Die versklavten Gemeindemitglieder wussten das jedoch nur zu genau, und sie hatten selbstverständlich nicht die Wahl, sexuelle Kontakte außerhalb der Ehe zu vermeiden.

Paulus geht es hier um die Auferstehungsfähigkeit der Person, und da liegt in seinen Augen der Schaden bei der Person, die andere sexuell ausbeutet. Das stellt immerhin heraus, dass die ausgebeutete Person nicht auch noch hinsichtlich ihrer Auferstehungsfähigkeit Schaden nimmt. Diese Perspektive mag auch in heutigen Kontexten, wo eine moralische Bewertung dominiert, die Betroffenen ins Recht setzen, als sie selbstverständlich keine Schuld trifft. Da aber bis heute in kirchlichem Vokabular jeder außereheliche sexuelle Kontakt als "Unzucht" bewertet wird, wird dieses Ins-Recht-Setzen wieder verdunkelt, weil nicht mehr nach Tätern und Opfern unterschieden wird. 

Hinzu kommt: Dieser Text wird im christlichen Gottesdienst vorgetragen, wo in aller Regel kaum jemand den frühjüdischen Kontext kennt. Dafür kennen die Beteiligten aber sehr wohl eine moralische Bewertung sexueller Fragen, die im Christentum vor allem durch den Sexualpessimismus des Augustinus nachhaltig geprägt worden ist. Aber schon mit Kenntnis dieses Kontextes ist dieser Briefabschnitt schwer erträglich, weil er überhaupt nicht versucht, die Perspektive sexuell missbrauchter Personen einzunehmen, obwohl sie Teil der Gemeinde waren. Ohne den Kontext wird die Aussage, dass ein Mann sich durch Sex mit Prostituierten selbst schädigt, nicht aber die ausgebeutete Personen, geradezu zur Anleitung dazu, die Opfer sexuellen Missbrauchs unsichtbar zu machen. Geradezu logisch ist dann, dass das Kirchenrecht sexuellen Missbrauch von Klerikern an erwachsenen Frauen immer noch als Zölibatsverstoß begreift, nicht als Missachtung des sexuellen Selbstbestimmungsrechts der Geschädigten.

Denn im römisch-katholischen Kontext gibt es immer noch keine Anerkennung des Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung - nicht von ungefähr hat der Vatikan als Mitglied des Europarats die "Instanbul-Konvention zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen" von 2011 nicht unterzeichnet. Und: In diesem Kontext ist die Täter-Opfer-Umkehr bei sexuellen Vergehen systemisch, weil die römisch-katholische Geschlechterlehre von Frauen die Bewahrung ihrer Jungfräulichkeit erwartet. Inszeniert und regelmäßig aktualisiert wird diese Geschlechterlehre durch die Feier von heiliggesprochenen Mädchen wie Maria Goretti, die sich gegen eine versuchte Vergewaltigung wehrte und dabei ermordet wurde. Ihre Heiligsprechung und die Feier ihres Gedenktages sagt allen Frauen: Hätte sie die Vergewaltigung erlitten statt den Tod, dann wäre sie nicht mehr jungfräulich-rein gewesen. 

Natürlich ist das nicht Paulus anzulasten, sondern das ist das Ergebnis jahrhundertelang gepflegter und ausgebauter Frauenfeindlichkeit. Aber solange die Geschlechterdiskriminierung noch besteht und solange es keine Anerkennung des sexuellen Selbstbestimmungsrechts gibt, läuft dieser Text Gefahr, das befreiende Wort von der Annahme alles Lebendigen durch G*ttes bedingungslose Liebe zu verdunkeln. Das ist kein gutes Zeugnis für einen Lesungstext. Allein an der Länge des Kommentars wird ja deutlich, wie erklärungsbedürftig er ist und wieviel Missverstehen mit dieser Textauswahl vorgezeichnet ist. Dennoch wird dieser Text regelmäßig im Gottesdienst vorgetragen, niemals hingegen das Hohelied der Liebe, dass gegenseitige Lust und Einvernehmlichkeit in einer sexuellen Liebesbeziehung besingt, kein einziger Abschnitt daraus. Wer das ändern kann, kann damit wirklich etwas ändern.

 

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