Dazu gab es ein umfangreiches Angebot an praktischen Kursen und Kulturangeboten. In diesem Jahr jährt sich die Gründung des historischen Volksvereins zum 125. Mal. Wenn Guido Weyer, Fachbereichsleiter Bibliothek und Archiv der Stadt Mönchengladbach, in dem kleinen blauen Heftchen blättert, muss er das mit größter Vorsicht machen. Denn kaum hat er die Broschüre in die Hand genommen, bricht er auch schon ein kleines Stück vom Umschlag ab.
Schuld ist die Säure, die Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts für die Herstellung des Papiers benutzt wurde. Der hohe Säuregehalt lässt die Blätter braun und bröselig werden. Deshalb gehen die Mitarbeiter der Mönchengladbacher Stadtbibliothek besonders vorsichtig mit dem Bestand der Bibliothek des historischen Volksvereins um. Denn die rund 72000 Monografien und 22000 Zeitungen voller Zeitgeschichte machen sie zu einer der wertvollsten Quellen für Historiker weltweit. Hier können sie das Leben der Arbeiter in den Textilfabriken und die Entstehung und Entwicklung der katholischen Soziallehre in Deutschland erforschen. Dafür nehmen Forscher sogar den Weg aus Japan oder den USA nach Gladbach auf.
Zum Jubiläum des historischen Volksvereins, der am 24. Oktober 1890 gegründet wurde, werden Teile der Bibliothek für eine Ausstellung im Museum Schloss Rheydt digitalisiert. Über 500 Schriften sind dafür bereits gescannt worden. In der Ausstellung können die Besucher nun digital in den Ratgebern blättern. Und so erfahren sie zum Beispiel, was die Leserin bei der Lektüre des Buches „Das häusliche Glück“ so über das Zähneputzen, häusliche Hygiene, Kochrezepte und Schnittmuster lernte. „Das Buch war ein Bestseller“, berichtet Weyer. „Man muss daran denken, dass die Frauen damals sechs Tage in der Fabrik arbeiteten, ohne Mutterschutz.“ Der Leitfaden für den Haushalt war mit seinen Tipps also eine willkommene Hilfe. Die erste Auflage kam 1881 mit 4000 Exemplaren auf den Markt. Innerhalb von sechs Jahren stieg die Auflage auf über 200000 Exemplare.
Bis 1920 erschien das Werk in insgesamt 30 Auflagen in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Gegründet wurde der Volksverein in Köln, doch von Beginn an hatte er seinen Sitz in Mönchengladbach. Weil der Vorsitzende und einer der Gründerväter, der Mönchengladbacher Textilfabrikant Franz Brandts, in seinem eigenen Haus das Vereinssekretariat einrichtete. Zweck des Vereins war laut Satzung „die Bekämpfung der Irrtümer und Umsturzbewegungen auf sozialem Gebiet, sowie die Verteidigung der christlichen Ordnung in der Gesellschaft.“ Der Volksverein machte sich für den Ausbau der Sozialversicherungs- und Arbeiterschutzgesetzgebung stark.
„Im Betrieb von Franz Brandts sind wesentliche praktische Beiträge zu den ab 1891 im Deutschen Reichstag verabschiedeten Arbeiterschutzgesetzen entstanden: Krankenkasse, Sterbegeld, Abschaffung der Kinderarbeit“, berichtet Pfarrer Edmund Erlemann. Erlemann ist Mitgründer und Beirat des neuen Volksvereins, der 1983 in der Tradition des historischen Vorbilds gegründet wurde. Zu den Neuerungen in Brandts Fabrik habe auch die Re-duzierung der täglichen Arbeitszeit von 16 auf schließlich acht Stunden und die Festlegung der Rechte der Arbeitnehmerschaft im Betrieb gehört, erzählt Erlemann aus der Geschichte. „Im Deutschen Gewerkschaftsstreit von 1900, der mit großer Erbitterung geführt wurde, hat sich der Volksverein eindeutig auf die Seite der Arbeitnehmer gestellt und die ,interkonfessionellen Gewerkschaften‘ gegen traditionelle katholische Kräfte in der deutschen Kirche verteidigt.“
Vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs zählte der Verein rund 800000 Mitglieder. Ab 1922 verlor er rapide Mitglieder, 1928 stand er vor dem finanziellen Aus. 1933 schließlich wurde der Volksverein von den Nationalsozialisten verboten und aufgelöst. „Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Volksverein nicht wieder zum Leben erweckt, obwohl sein letzter Generaldirektor, Johannes Joseph van der Velden, inzwischen Bischof von Aachen war“, sagt Edmund Erlemann. In Mönchengladbach aber lebte der Geist des Volksvereins nach der Gemeinsamen Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland Anfang der siebziger Jahre wieder auf.
Als einer der sieben gewählten Synodalen aus dem Bistum Aachen und Sachkommissionsvorsitzender „Christliche Diakonie“ bereitete Erlemann den Beschluss „Kirche und Arbeiterschaft“ für die Vollversammlung mit vor. „Er hat mein Leben verändert“, berichtet der 80-Jährige. „Zurück von der Synode, machten wir damals in der Region Mönchengladbach Betriebspraktika. Ich war bei Bayer in Uerdingen und habe vier Wochen in Schicht gearbeitet. Und dabei viel gelernt: vor allem die einfache Sprache, den Sinn für das Praktische und für Solidarität.“ Letztere stand bei der Gründung des heutigen Volksvereins im Mittelpunkt.
Der wurde 1983 gegründet, nachdem auch in Gladbach mit dem Zusammenbruch der Textilwirtschaft die Arbeitslosigkeit auf ein Höchstmaß stieg. Im Prinzip sind die Klienten des Volksvereins die Nachfahren des historischen Vorbildes. Und wie das Original will auch der neue Volksverein durch Bildung, Beratung und Begegnung seinen Klienten eine Perspektive und aktive Teilhabe an der Gesellschaft ermöglichen.
Die Ausstellung „Buch und Bild fürs Volk“ in Schloss Rheydt ist bis 29. November geöffnet, Auskunft: www.schlossrheydt.de.