Das Geistliche Wort:Ansichtssachen

Vieles im Leben kann man ja so oder auch anders sehen – ist eben Ansichtssache. Aber heißt das auch, dass alles dann nur persönlich und subjektiv gilt und es keine objektiven Ansichten gibt? Also: „Ansichtssache!“ – das sage ich manchmal, wenn mir jemand voller Eifer oder auch Empörung etwas erzählt, das ich eigentlich anders sehe. Aber ist es deshalb schon richtig, was ich oder der andere da sagt? Schwierige Frage! Aber es ist doch interessant, einmal andere Ansichten einzunehmen und mit anderen Augen auf die Dinge zu schauen. Und davon möchte ich heute Morgen erzählen. Ich bin Markus Offner, Diakon, und arbeite im Bistum Aachen u.a. für die Partnerschaftsarbeit mit der Kirche in Kolumbien. Und das hat mir die Augen geöffnet für viele unterschiedliche An- und Einsichten
Zu Beginn des Jahres war ich mit meiner Frau in einer wunderbaren Ausstellung, die mich auf die Idee zu diesem Beitrag gebracht hat: Die Ausstellung hieß nämlich „Ansichtssachen – alte Schätze neu entdeckt“. Sie entstand als ein gemeinsames Projekt des Aachener Suermondt-Ludwig-Museums mit den Aachener Werkstätten der Lebenshilfe. In den Werkstätten gibt es nämlich eine Kunstwerkstatt, in der Menschen mit Beeinträchtigungen arbeiten. Und genau diese Menschen haben das Suermondt-Ludwig-Museum mehrere Male besucht, genauer: die Sammlung mittelalterlicher Kunst. Und von den hier gezeigten Kunstwerken haben sie sich inspirieren lassen und dann eigene, neue Kunstwerke geschaffen. Ungefähr 40 dieser neuen Kunstwerke waren jetzt direkt neben die mittelalterlichen Kunstwerke gestellt. Eine beeindruckende Kombination: Eben neue Ansichten auf alte Werke.
Da steht neben einer mittelalterlichen Darstellung der heiligen Dreikönige, die das Jesuskind anbeten, nun eine digital gezeichnete Neufassung. Und der Titel bringt etwas auf den Punkt, was ich noch nicht gesehen hatte: Alle haben sich schick gemacht.
Ja, genau, das ist es, was man sieht: Menschen in prächtigen Gewändern und eigenwilligen Frisuren. Ich hatte das Bild schon schnell mit meinen gelernten Mustern eingeordnet und eigentlich abgehakt – bin gedanklich nur kurz am „holden Knaben im lockigen Haar“ hängen geblieben. Jetzt sehe ich mit den Augen der Künstlerin aus der Kunstwerkstatt der Aachener Lebenshilfe.
Eine andere Künstlerin aus der Kunstwerkstatt hat sich von einem mittelalterlichen Teppich inspirieren lassen und mit ihrer eigenen Sticktechnik aufgegriffen. Und die Art der Neupräsentation lässt erahnen, wie viel Freude sie an der alten und ihrer neuen Technik hat. Und so heißt ihre Stickarbeit auch folgerichtig: Sticken macht Spaß.
Unter so einem Aspekt, hätte ich mir den alten Teppich nie angesehen, aber was für eine neue Ansicht und Einsicht: Das, was ich sehe, mit dem zu verbinden, was ich kann. Und: das macht Spaß!
Ein weiterer Künstler interpretiert ein anderes mittelalterliches Tafelbild neu: Zu sehen ist ursprünglich das Festmahl von König Herodes, bei dem der Kopf Johannes des Täufers dargereicht wird. Der Künstler aber fokussiert jetzt eine andere Personengruppe, die auch zum Festmahl dazu gehört: Drei Musikanten mit Blasinstrumenten. Unbeeindruckt vom gewaltsamen Kontext des Originals setzt der Künstler einen neuen Akzent und titelt sein Bild: Alle hören zu.
Ich bin fasziniert von dieser besonderen Form der Fokussierung. Eine andere Ansicht eben. Und ich kann die Musik fast hören und ich erinnere mich an mein eigenes Musik-Erleben, wenn mir beim Mitsingen in einem Chorkonzert ein Schauer den Rücken runter läuft und ich ganz in der Musik aufgehe und alles andere in den Hintergrund tritt.
Derselbe Künstler hat sich noch von einem anderen Kunstwerk inspirieren lassen. Zu sehen ist die farblich gefasste Holzskulptur eines braun-gelockten jungen Mannes. Der steckt bis zum Bauch in einem Kessel und hat die Hände gefaltet. Es ist der heilige Veit dar, der der Legende nach in einem Kessel mit heißem Öl gefoltert wurde. Die Neuinterpretation nennt die Szene als ein eigenes Bild schlicht: Whirlpool.
Witzig und ein bisschen makaber! Aber das ist es doch, was man sieht: Einen jungen Mann, mit ruhigem fast verklärtem Blick, dem nichts etwas anhaben kann. Ausdruck von Wellness – so könnte man sagen statt Tortur; oder eben Wohlbefinden in einem Whirlpool. Ansichtssache eben.
Solche anderen Ansichten und Perspektiven sind doch erfrischend und faszinieren mich. Und ich frage mich: Mit welchen Voraussetzungen und Prägungen, die ich erlernt und erfahren habe, schaue ich eigentlich die Menschen und Dinge an, die mir begegnen? Wäre ein Blickwechsel nicht manchmal angebracht, eben eine andere Ansicht?
Die Gedanken und Gefühle, die die mittelalterlichen Kunstwerke bei diesen besonderen Künstlern jedenfalls ausgelöst haben, hat schließlich ein weiterer Künstler wunderbar und sehr witzig zum Ausdruck gebracht. Er schriebt auf ein Plakat zum Ende der Ausstellung mit blauer und roter Tusche: „DAS MITTELALTER WAR SO MITTEL, ALTER“.
„DAS MITTELALTER WAR SO MITTEL, ALTER“ – Ist das nun ein Urteil oder gar ein Vorurteil oder doch nur Ansichtssache? Ein paar Wochen nach dem Besuch der Ausstellung: „Ansichtssachen – alte Schätze neu entdeckt“ habe ich im Radio ein Interview mit dem Archäologen und Museumsdirektor Matthias Wemhoff gehört. Der stellt sein neues Buch vor, das er gemeinsam mit der Wissenschaftsautorin Gisela Graichen geschrieben hat: „Gründerzeit 1200 – Wie das Mittelalter unsere Städte erfand“. Ich musste sofort wieder an das einprägsame Plakat in der Ausstellung denken: „DAS MITTELALTER WAR SO MITTEL, ALTER“.
Ich habe mir daraufhin das Buch gekauft und sehr viel über das sogenannte Mittelalter gelernt, vor allem: wie viel das mit mir und uns bis heute zu tun hat.
Von wegen: finsteres Mittelalter voller Kriege, Hungersnöte, Pestwellen, Inquisition und Hexenverfolgungen.
„Um 1200 … war alles im Aufbruch, voller Optimus und Wagemut“ heißt es da. Viele Städte wurden gegründet, die bis heute existieren. Städte boten den Raum für Umbruch und Aufbruch, für wissenschaftliche Entdeckungen, für künstlerische und architektonische Höchstleistungen. In dem Buch wird dazu aufgezählt: „die Erfindung von Uhrwerk, Kompass und der Brille auf der Nase, die Nutzung von Wind- und Wasserkraft durch Mühlen, die Schubkarre, der Wendepflug und die Dreifelderwirtschaft, die himmelstürmenden Bauwerke der Gotik, das Handelsnetzwerk der Hanse und nicht zuletzt die Null.“[1] Aber auch damals gab es schon Probleme, wie ich beim Lesen weiter erfahre:
Extensive Landwirtschaft und Bauboom führten dazu, dass die einst riesigen Wälder stark gerodet wurden.
Und wenn ich dann in unsere Zeit schaue: 2015 lebten global zum ersten Mal in der Geschichte mehr Menschen in der Stadt als auf dem Land. In Deutschland leben jetzt schon fast 80 Prozent der Bevölkerung in Städten. Damit stellen sich Fragen nach dem Miteinander im städtischen Umfeld – damals wie heute.
So ein Blick in die Vergangenheit kann ja helfen, die Gegenwart besser zu verstehen. Und vielleicht werden damit aus Ansichten sogar Einsichten?
In unseren Zeiten wachsender gesellschaftlicher Polarisierung ist es wichtig, dass wir wieder mehr gemeinsame Ansichten und Einsichten entwickeln. Aber wo wären Orte und Räume dafür? – so frage ich mich. Vielleicht ist das ja ein wichtiger Impuls für die Christinnen und Christen in den Städten von heute, Räume und Orte für Menschen offen zu halten, um wieder mehr Gemeinsinn zu entwickeln. Orte und Räume, um sich über die verschiedenen Ansichten auszutauschen und vielleicht zu neuen Einsichten zu gelangen. Ich stelle mir vor, dass gerade die Kirchengebäude , die ja immer weniger nur von Christinnen und Christen genutzt werden, für die ganze Stadt- oder Ortsgesellschaft zur Verfügung gestellt werden könnten. Ich kenne Beispiele, wo Kirchen zu Versammlungsstätten umgenutzt werden. Hier finden dann Ausstellungen, Inszenierungen aber auch Diskussionsforen statt, damit Ansichten ausgetauscht werden können und vielleicht zu begründeten Einsichten werden.
Vieles im Leben kann man ja so oder auch anders sehen – ist eben Ansichtssache. Ich möchte hier noch ein persönliches Erlebnis erzählen, was mir auch noch einmal die Augen geöffnet hat – und auch viel Verständnis im Umgang mit dementen Menschen erschlossen hat:
Meine Mutter, Jahrgang 1937, lebt rheinisch fröhlich, körperlich rüstig, aber zunehmend dement und seit letztem Jahr verwitwet in ihrem eigenen Haus in Bonn. Sie wird im Alltag liebevoll betreut von Damen, die abwechselnd bei ihr wohnen und mit ihr leben. Einmal die Woche fahren mein Bruder oder ich von Aachen nach Bonn, um Zeit mit unserer Mutter zu verbringen.
Meine Mutter erkennt mich noch, weiß meinen Namen und ist, Gott sei Dank, immer noch zufrieden mit ihrem Leben, was sich - wie schon immer - darin ausdrückt, dass sie gerne erzählt. Dennoch verschieben sich krankheitsbedingt Einsichten und Ansichten auf manchmal überraschende Weise.
So zum Beispiel bei „meinem“ letzten Wochenende mit ihr. Ich habe meine Mutter ins Auto gepackt und wir sind zu einem Spaziergang aufgebrochen und in den Süden von Bonn gefahren.
Bei jeder Autofahrt stellt meine Mutter auf’s Neue überrascht fest: Ja, wo kommen denn die ganzen Autos her? Und: Hier ist ja alles vollgeparkt! Da muss wieder ein Fest sein! Da käme ich ja mit meinem Dreirad gar nicht mehr durch. - Stimmt, da hat sie recht mit ihrer Einsicht.
Aber später, verstehe ich nicht mehr richtig, was sie eigentlich sagen will. Wir sind bei unserem Spaziergang an einem schönen Aussichtspunkt angelangt. Der Blick geht auf das Siebengebirge mit der Burgruine Drachenfels und das Rheintal, bis hin zum Kölner Dom
Da stellt meine Mutter fest: die da am Fuß des Berges im Schatten haben es auch nicht leicht. Irgendwie empathisch denke ich, aber was bewegt meine Mutter gerade, frage ich mich.
Beim Rückweg bleibt sie dann immer wieder am Wegesrand stehen, berührt vorsichtig die blühenden Buschwindröschen, weist auf das Immergrün am Wegesrand hin oder ist fasziniert vom Gewirr der Äste, Blätter und Blüten, durch die immer wieder ein Stück Himmel zu sehen ist. Das Fortkommen braucht seine Zeit. Aber worauf kommt es eigentlich an, wenn sich mir die Ansichten meiner Mutter nicht mehr erschließen, wenn die größeren Zusammenhänge verloren gehen? Es sind vielleicht Ansichtssachen der anderen Art eben, Momentaufnahmen, die mich auf neue Weise lehren, Dinge im Augenblick wahrzunehmen, jenseits von Effizienz und Planung. Und dann gibt es auch manchmal Überraschungen: Als ich gemeinsam mit meiner Mutter den Einführungsgottesdienstes des neuen Papstes Leo XIV. anschaue, schwenkt die Kamera immer wieder über die Reihen der Bischöfe und Priester. Da fragt doch meine Mutter: Wo sind denn eigentlich die Frauen? Gute Frage! denke ich: Wenn daraus doch einmal eine kirchliche Einsicht würde.
Vieles im Leben kann man ja so oder auch anders sehen – ist eben Ansichtssache. Noch eine letzte Spur. Jetzt aus der Bibel:
Jesus fragt einmal seine Freunde (vgl. Lk 9,18-24): Für wen halten mich die Leute? Und die Jünger antworten ganz im Sinne verschiedener Ansichten: Einige für Johannes den Täufer, andere für Elíja; wieder andere sagen: Einer der alten Propheten ist auferstanden. Offensichtlich damals eine– Ansichtssache, eben, je nach persönlichem, religiösem, kulturellem und sozialem Kontext. Und heute. Wenn da die Frage gestellt würde: Für wen halten Sie diesen Jesus? Sicherlich würde auch wieder eine ziemliche Bandbreite herauskommen, bis hin zu der Rückfrage „Jesus wer?“
Im Lukasevangelium antwortet Petrus mit einem Bekenntnis: Du bist der Gesalbte Gottes. – Ist das jetzt auch nur eine Ansichtssache?
Immerhin: Petrus und die Menschen, die Jesus zu seinen Lebzeiten gefolgt sind, haben ihn als einen besonderen Menschen erlebt. Er schien in einzigartiger Weise von Gott geprägt und begnadet gewesen zu sein. Und darum der Titel: Du bist der Gesalbte! Auf griechisch Christós, oder in der Sprache und Tradition der Jünger: der Messias. Hinter diesem Titel steht ein ganzes Programm, denn der Messias wurde seit langem im Volk Israel erwartet, als König, als Prophet, als Befreier.
„Du bist der Gesalbte, der Christus Gottes“ ist daher Ausdruck der Erfüllung dessen, was sie erwartet haben. Und so knüpfen sie eine Beziehung zu Jesus, die ihr Leben verändert, ja auf den Kopf stellt. Letztlich hat die Beziehung zu Jesus den Jüngern neue Ansichten und Einsichten eröffnet. Und was war dafür die Voraussetzung? Sie waren offen für diese neuen Ansicht die im Tod nicht das Ende, sondern einen Neuanfang sieht, die Hoffnung stärker schätzt, als sich ins Schicksal zu ergeben und einlädt, neugierig darauf zu bleiben, dass es immer noch anderes ausgehen kann, als erwartet.
Für mich ist diese Begegnung mit Jesus wie eine Einladung, neu und anders miteinander in Beziehung zu treten. In Beziehungen, in denen ich auf überraschende, ja manchmal sogar verstörende Weise etwas über andere und damit auch über mich selbst - und als Christ würde ich sagen - auch von Gott erfahre.
Vieles im Leben kann man ja so oder auch anders sehen – ist eben Ansichtssache. Und als Christ weiß ich: Es kommt auf meine Haltung an, ob ich noch neugierig darauf bin, dass es doch noch einmal anders sein könnte, als ich es mir gedacht habe.
Dass Ansichten zu Einsichten werden wünscht Ihnen Markus Offner, Diakon in Aachen.