Konsequent, transparent und lückenlos

„Die Aufarbeitung sexualisierter Gewalt ist kein Projekt, keine kurzfristige Maßnahme, sondern eine Frage der Haltung von uns allen. Aufarbeitung sexualisierter Gewalt bleibt ein Thema für die Kirche und die ganze Gesellschaft“, betont Generalvikar Dr. Andreas Frick. (c) Bistum Aachen - Andreas Steindl
„Die Aufarbeitung sexualisierter Gewalt ist kein Projekt, keine kurzfristige Maßnahme, sondern eine Frage der Haltung von uns allen. Aufarbeitung sexualisierter Gewalt bleibt ein Thema für die Kirche und die ganze Gesellschaft“, betont Generalvikar Dr. Andreas Frick.
Datum:
Do. 14. Sep. 2023
Von:
Stabsabteilung Kommunikation

Aachen, 14. August 23 - Eine konsequente Aufarbeitung sexualisierter Gewalt ist die Grundlage für die Glaubwürdigkeit der Kirche. Sie entspringt nicht nur einer historischen Verantwortung für die vergangenen Jahrzehnte, sondern bildet zugleich durch flächendeckende Prävention einen Schutzwall vor Machtmissbrauch, sexualisierter Gewalt und Übergriffen auf Kinder- und Jugendliche. In dem 2020 von einer Münchener Kanzlei veröffentlichten Gutachten für das Bistum Aachen sind die systemischen Ursachen durch Klerikalismus und sogenannten Co-Klerikalismus klar benannt worden. Neben vielen anderen strukturellen Themen wird in der Folge derzeit auch an einer Systematik gefeilt, um Täter – die meisten sind verstorben oder die Taten sind verjährt – öffentlich nennen zu können. Viele Betroffene brauchen erst Jahre oder Jahrzehnte, um sich ihrer Traumata bewusst zu werden und sich beim Bistum Aachen zu melden. Insofern bietet eine Kultur des Hinsehens den Rahmen, möglichen Betroffenen professionelle Experten an die Seite zu stellen.
Im Folgenden gibt Generalvikar Dr. Andreas Frick einen Einblick in die klare Haltung des Bistums und die weitreichenden Konsequenzen der Aufarbeitung. 

Alle wissen, dass der Bischof und ich für eine konsequente, transparente und lückenlose Aufarbeitung von Missbrauchstaten im Bistum Aachen stehen. Mit der Veröffentlichung des Gutachtens durch die Münchener Kanzlei - heute Westphal & Spilker Rechtsanwälte - im November 2020 hatten wir eine wichtige Zwischenetappe erreicht, um die systemischen Ursachen für Missbrauch in unserem Bistum offenzulegen. Seitdem werden die sich daraus ergebenen Aufgabenstellungen konsequent erarbeitet und umgesetzt. Eine Neuausrichtung der Priesterausbildung, ein konsequenter Einsatz bestehender Schutzkonzepte in all unseren Pfarreien und Einrichtungen sowie die weitere Professionalisierung von Intervention und Prävention sind nur einige Hebel, mit denen wir einer Systemik begegnen, die durch Klerikalismus und Co-Klerikalismus befördert worden ist. Wir sind uns alle im Klaren darüber, dass die Aufarbeitung nicht nur in unserer historischen Verantwortung liegt, sondern zugleich die wichtigste Voraussetzung dafür ist, Missbrauch keine Chance zu geben. Verfehlungen, Missstände und Verbrechen sind klar zu benennen, zu melden und zu verfolgen. Dies ist unsere gemeinsame Aufgabe.

Die Sicht der Betroffenen steht im Mittelpunkt 

Es geht um eine Kultur des Hinsehens, der Konfliktfähigkeit und Klarheit. Die Sicht der Betroffenen, ihre Anliegen sowie ihr Schutz vor Belastungen und Retraumatisierung stehen im Mittelpunkt all unserer Maßnahmen. DEN Betroffenen oder DIE Betroffene gibt es nicht. Der Spannungsbogen zwischen Achtsamkeit und Aufklärung ist groß. Jeder Fall ist anders. Dies gilt auch für die geforderte „Täter-Nennung“. Eine differenzierte Betrachtung ist kein Ergebnis von Vertuschung, sondern Ausdruck dessen, in einem Rechtsstaat rechtsstaatliche Standards und Mittel zu wahren. Es gibt die zwingende Notwendigkeit im Sinne höchstmöglicher Transparenz, nachvollziehbare Systematiken zu entwickeln. Nach intensiver Beratung mit dem Ständigen Beraterstab haben wir daher entschieden, grundsätzlich Namen von Tätern sexualisierter Gewalt öffentlich zu nennen. Als Täter gelten diejenigen, die entweder verurteilt wurden oder nach unserer Überzeugung Täter waren oder sind. Damit sollen bislang noch unbekannte Betroffene aufgerufen werden, sich zu melden.

Angemessene und tiefgründige Vorbereitung 

Interdisziplinäre Fachexperten erarbeiten derzeit bis Ende diesen Monats eine Vorlage für die verschiedenen Gremien, die die Aufarbeitung kontrollieren und begleiten, und damit eine Systematik, die als Grundlage für die öffentliche Nennung dient. Dann werden weitere Schritte beschlossen. Um diese Ergebnisse, die juristischen Einwänden standhält und die betroffenen Gemeinden begleiten kann, vorlegen zu können, braucht es eine angemessene und tiefgründige Vorbereitung. Veröffentlicht werden sollen nicht nur Namen der Täter, die im Gutachten aus dem Jahr 2020 genannt werden, sondern auch in begründeten Einzelfällen weitere Namen.

Wir stützen uns bei der Aufarbeitung auf ein Governance-System von Kontrolle und Begleitung. Wir sind in einem intensiven Austausch mit dem Betroffenenrat, der die Interessen der Betroffenen auch mit der notwendigen politischen Ausrichtung vertritt. Die Unabhängige Aufarbeitungskommission, in der externe Expertinnen und Experten sitzen, ist seit gut einem Jahr aktiv und hat zur Aufgabe, die Aufarbeitungsergebnisse des Bistums zu dokumentieren. Der Ständige Beraterstab des Bischofs ist ein weiteres Gremium, das mit hoher Expertise und in einem offenen Dialog kritische Punkte anspricht. 

Präventionsarbeit stärken und ausbauen 

Die Schlussfolgerungen aus dem Gutachten bleiben weiterhin aktuell. Wir stärken und bauen die Präventionsarbeit aus, die seit 2011 systematisch aufgebaut wurde. Alle fünf Jahre müssen Mitarbeitende, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, ein erweitertes Führungszeugnis vorlegen. Dies gilt auch für Priester und ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Für die Überprüfung ist jeder Dienstvorgesetzte verantwortlich. Jeder neue in der Intervention gemeldete Fall wird der Staatsanwaltschaft gemeldet. Staatliches Recht hat Vorrang, und kirchliches Recht muss ebenfalls beachtet werden. Die Kontrolle, ob die Schutzkonzepte und Regularien auch eingehalten werden, obliegt den jeweiligen Dienstvorgesetzten. 

Missbrauch zerstört Seelen, Biografien und soziale Beziehungen

Missbrauch entsteht immer in speziellen Kontexten, Täterstrategien gestalten sich gegebenenfalls so perfide, dass sie selbst für aufmerksame Beobachterinnen und Beobachter kaum erkennbar werden. Dies macht die Betrachtung der Vergangenheit und der Systemik unverzichtbar. Wir wissen alle, dass bisweilen viele Menschen etwas geahnt haben, Andeutungen machten oder geschwiegen haben. Missbrauch zerstört Seelen, Biografien und soziale Beziehungen. Nicht nur in Familien, sondern auch in Gemeinden. Umso wichtiger ist es, dieses Thema auch vor Ort – begleitet und mit hoher Professionalität – zur Sprache zu bringen. Dies wird ein weiterer wesentlicher Schritt sein, den wir erarbeiten.

Per Ende Juni 2023 sind insgesamt 250 Betroffene bekannt. 134 Betroffene haben Anträge auf Anerkennung des Leids gestellt, die von der Unabhängigen Kommission für Anerkennungsleistungen (UKA) in Bonn auf Plausibilität geprüft wurden. Darüber hinaus gibt es 116 Betroffene, die keine Anträge gestellt haben. 121 Beschuldigte und Täter sind dem Bistum namentlich bekannt. Darunter befinden sich 110 Kleriker (Pfarrer, Kapläne, Patres, Diakone) und Ordensschwestern. Die weiteren elf waren Hausmeister, Küster, Lehrer und Erzieher. 

Betroffene behalten die Hoheit über die eigene Biografie

Die UKA ist sehr viel schneller in der Bearbeitung der Anträge geworden. Und dennoch läuft für viele sehr betagte Betroffene die Zeit davon. Viele Taten sind „verjährt“. Dies macht eine strafrechtliche Verfolgung durch Gerichte nicht möglich, das aber ist für Betroffene vielfach unerträglich.

Jüngst hat es ein Urteil des Landgerichts Köln gegeben, das einem Betroffenen ein Schmerzensgeld in Höhe von 300 000 Euro zugesprochen hat. Dies wird auch Auswirkungen auf bisherige staatliche Schmerzensgeldtabellen haben, die bislang keinen sexuellen Missbrauch abbilden. Dieses inzwischen rechtskräftige Urteil wird absehbar auch die Anerkennungsleistungen durch die UKA beeinflussen. Und das ist gut so.

Im Bistum Aachen sind bis Juni insgesamt 2,355 Mio. Euro an Betroffene gezahlt worden - eine Wiedergutmachung für erlittenes Leid kann dies nicht sein. Anders als immer wieder kolportiert, gibt es keine Höchstgrenze von 50 000 Euro. Wir haben in drei Fällen mehr als 100 000 Euro gezahlt. Die Unabhängigen Ansprechpersonen beraten und begleiten die Betroffenen bei der Antragsstellung. Entscheidend ist, dass jede/r Betroffene die Hoheit über seine/ihre eigene Biographie behält. 

Die Aufarbeitung sexualisierter Gewalt ist kein Projekt, keine kurzfristige Maßnahme, sondern eine Frage der Haltung von uns allen. Aufarbeitung sexualisierter Gewalt bleibt ein Thema für die Kirche und die ganze Gesellschaft."