Jugendarbeit:Jugend in der Krise – Mut und Haltung gefragt

Armut, Wohnungsnot, Kriegsangst, schwindendes Vertrauen in politische Teilhabe: Die Lage junger Menschen ist komplexer denn je. Jugendforscherin und Beraterin Dr. Anna Grebe erklärt, warum sich nicht die Bedürfnisse, sondern die Zugänge zu ihrer Erfüllung verändert haben – und weshalb Jugendarbeit vor allem Mut, Haltung und echte Beziehungsangebote braucht.
Frau Dr. Grebe, wenn Sie auf die Zeit seit 2020 blicken: Welche Grundbedürfnisse haben sich bei Jugendlichen am stärksten verändert?
Ich glaube nicht, dass sich die Grundbedürfnisse selbst verschoben haben. Zugehörigkeit, Sicherheit, Partizipation, Sinn – all das ist nach wie vor zentral. Aber die Zugänge, diese Bedürfnisse zu befriedigen, sind schwieriger geworden. Wenn wir uns aktuelle Daten anschauen – jeder Vierte zwischen 18 und 24 Jahren armutsgefährdet, jeder Zweite sorgt sich um bezahlbaren Wohnraum, 81 Prozent haben Angst vor einem Krieg in Europa, nur 42 Prozent fühlen sich frei, ihre politische Meinung zu äußern – dann wird klar: Die Bedürfnisse sind konstant, aber viele junge Menschen sehen keine Wege mehr, sie zu erfüllen. Die Frage ist: Was macht das mit ihnen? Das kann Frust und Resignation auslösen, wie es die COPSY-Studie zeigt. Es kann aber auch zu neuen Formen der Sinnsuche führen. Und genau da wird es spannend: Welche Wege finden junge Menschen heute, um sich trotz widriger Umstände zu orientieren?
Welche Problemlagen sind aktuell am drängendsten – mentale Gesundheit, Bildungsbrüche, Einsamkeit, finanzieller Druck?
Diese Themen lassen sich kaum voneinander trennen. Oft verschränken sie sich so sehr, dass ein Gefühl permanenter Krisenhaftigkeit entsteht. Jugend ist ohnehin eine Lebensphase voller Herausforderungen: Qualifizierung, Selbstständigkeit, Identitätsfindung. Kommen dann globale Pandemien, Kriege, Klimakrise und deren mediale Dauerpräsenz dazu, fühlen sich viele Jugendliche der Welt ausgeliefert – und auch den Entscheidungen der Erwachsenen. Die Allgegenwärtigkeit digitaler Medien verstärkt das: Man sieht nicht nur die eigene Lage, sondern die von Menschen weltweit. Das kann überfordern.
Was braucht die Jugendarbeit, um „Safe Spaces“ und hohe Qualität wirklich zu sichern? Drei Dinge, die wir ab morgen anders machen sollten?
Erstens: radikale Beteiligung junger Menschen an allem, was sie betrifft.
Zweitens: ausreichende Ressourcen. Jugendarbeit ist Beziehungsarbeit – dafür braucht es Personal, das unter guten Bedingungen arbeiten kann.
Drittens: das ehrliche Eingeständnis, dass es keine Safe Spaces gibt, aber Safer Spaces geben muss. Ein vollkommen sicherer Raum ist nicht erreichbar. Safer Spaces setzen dagegen auf Bewusstsein: für Unterschiedlichkeit, für Bedürfnisse, für potenzielle Verletzungen. Ziel ist nicht Perfektion, sondern Minimierung von Diskriminierung – und kontinuierliche Weiterentwicklung anhand der Rückmeldungen junger Menschen. Genau das sichert Qualität.
Wie erreichen wir nach Corona besonders die „distanzierten“ Jugendlichen? Welche Formate funktionieren wirklich?
Ich glaube nicht, dass wir neue Formate erfinden müssen. Vielmehr müssen wir wieder in echte Beziehung zu jungen Menschen treten und die konkreten Probleme anerkennen, die sie beschäftigen. Das sind oft ganz praktische Fragen:
Wo bekomme ich WLAN für meine Hausaufgaben? Wo kann ich sitzen, ohne fünf Euro ausgeben zu müssen? Wer hilft mir durch den Ausbildungsdschungel? Wo gibt’s eine warme Mahlzeit? Wem erzähle ich, dass ich rassistisch beleidigt wurde – und wo darf ich darüber auch wütend sein?
Das klingt banal, aber es ist essenziell. Menschen erreichen heißt: mich radikal auf ihre Realität einlassen – unabhängig von meiner eigenen Bewertung als Erwachsene. Begleitung sein, Coach sein, Verbündete sein. Dafür braucht es keine spektakulären neuen Methoden, sondern Haltung, Neugier und Mut. Und ja, auch Hoffnung.
Kurzbiografie
Dr. Anna Grebe ist Beraterin, Autorin und Speakerin an den Schnittstellen von Medien, Politik und Partizipation, mit Schwerpunkt auf Jugendpolitik und Jugendbeteiligung. In ihrem Podcast „Berufsjugendlich“ spricht sie gemeinsam mit Jendrik Peters über jugendpolitische Themen – aus der Perspektive zweier Erwachsener, die sich als Verbündete junger Menschen verstehen.