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Zwischen Transparenz und Persönlichkeitsschutz

Bischof Dr. Helmut Dieser
Bischof Dr. Helmut Dieser zu Erfahrungen und Verantwortung bei der Aufarbeitung
Datum:
Mo. 8. Sept. 2025
Von:
Abteilung Kommunikation

Herr Bischof, das Bistum Aachen hat im Zuge der Aufarbeitung sexualisierter Gewalt im Herbst 2023 in Öffentlichen Aufrufen Namen von Priestern genannt, um Betroffene zu ermutigen, sich zu melden. Welche Erfahrungen waren damit verbunden?

Wir hatten diesen Schritt lange vorbereitet und mit unterschiedlichen Experten und Gremien beraten. Es war uns klar: Wir brauchen dafür klar festgelegte Kriterien, die zum einen Betroffenen möglich machen, ihre Erfahrungen mitzuteilen und aus dem Dunkelfeld herauszutreten. Zum anderen gelten für alle Menschen, auch für Verstorbene und Beschuldigte, Persönlichkeitsrechte, die auch bei solchen Aufrufen nicht außer Acht gelassen werden dürfen. Diese Kriterien, nach denen wir dann vorgegangen sind, haben wir auch transparent gemacht.

Unser eigentliches Ziel, Betroffenen zu helfen, aus der Einsamkeit Ihres erlittenen Leids herauszutreten, haben wir vielfach erreicht. Es sind viele Meldungen und Gesprächswünsche bei den Ansprechpersonen oder bei der Intervention einge­gan­gen. Die Motive waren jeweils ganz unterschiedlich. Viele wollten ihr Schicksal erzählen, viele haben sich dann auch entschlossen, einen persönlichen Antrag auf Anerkennung des Leids zu stellen. Ganz bestimmt gibt es darüber hinaus auch viele Betroffene, die nicht mit Personen der Kirche über das Erlebte erzählen und sich deshalb auch nicht bei uns melden wollen.

Einige zusätzliche Hinweise sind auch von Nicht-Betroffenen eingegangen.

Die Kolleginnen und Kollegen aus der Intervention haben insgesamt von sehr ver­trau­ensvollen und nahegehenden Gesprächen berichtet.

 

Auch nach Jahren der Befassung mit der Aufarbeitung bin ich immer wieder er­schüttert, wie zielstrebig und skrupellos die Täter das Vertrauen von Menschen, die ihnen vorbehaltlos vertraut hatten, ausgenutzt und ihre Unversehrtheit zerstört haben – und all das in den Anlässen und Orten, die das kirchliche Leben ihnen dafür boten. Das Heilige wurde so vielfach und tiefgehend missbraucht: das Heilige von Menschen in Leib und Seele und das Heilige des Glaubens, der Sakramente und der kirchlichen Gemeinschaft.

Warum hat das Bistum und haben Sie Ihre Einschätzung zu den Aufrufen geändert?

Vor den Aufrufen haben wir viele mögliche Reaktionen durchdacht und mit ver­schiedenen Gruppen vorbesprochen. Das waren die Kirchengemeinden und viele engagierte Ehrenamtliche, und natürlich haben wir das Thema auch intern und im Kreis der Priester reflektiert und beraten. Es gab nicht nur Zustimmung, sondern auch viele Einwände und Bedenken, die uns geholfen haben, die Kriterien, von de­nen ich eben gesprochen habe, zu gewinnen und einen Begleitrahmen für die Ver­öffentlichungen vorzubereiten.

Mir war klar, dass ich als Bischof die Verantwortung für diesen Schritt übernehmen würde, und das wollte ich auch.

Knapp zwei Jahre später muss ich heute deutlich sagen, dass ich gewichtige neue Erkenntnisse hinzugewonnen habe und meine Einschätzungen sich in dieser Zeit auch verändert haben. Nicht alle Auswirkungen unseres Vorgehens konnten wir im Voraus im Blick haben. Auch waren die Reaktionen aus der Öffentlichkeit sehr geteilt von dankbarer Zustimmung bis zu gänzlicher Ablehnung, von Lob bis zu schweren Vorwürfen. Niemand hat allerdings bisher gesagt: Ich finde euren Schritt so gut, dass ich ihn in meinem Verantwortungsbereich in vergleichbarer Weise ebenfalls gehen werde.

Nun ist es aber nicht so, dass ich unseren Schritt bereue, denn in der damaligen Situation hatten wir gute Gründe, transparente Motive und auch klare Absichten, nämlich: ein Stück Aufarbeitung des geschehenen Leids zu ermöglichen durch die Meldungen, die von Betroffenen selbst kommen, und ihnen so aus dem Dunkelfeld heraus zu helfen. Das ist ja auch vielfach gelungen! Menschen, die jahrzehntelang geschwiegen hatten, haben sich mitgeteilt und ihre Einsamkeit ein Stück verlassen.

Traurig machen mich bis heute auch Reaktionen aus dem familiären Umfeld der veröffentlichten Namen. Für diese Angehörigen war es ein Schock oder ein plötzliches Gestoßen werden in Unruhe, Empörung und Scham, weil sie unvermittelt in die Erkenntnis gestellt wurden, dass ihr schon lange verstorbener Verwandter, ein Bruder, ein Onkel, ein Cousin, ein Verbrecher gewesen sein soll.

Natürlich ist es ein immer wieder erlebter Reflex von Menschen, dass sie sich nicht vorstellen können, dass ausgerechnet ihr priesterlicher Verwandter oder Freund Missbrauch begangen haben soll. Die Realität, das wissen wir, ist aber eine andere. Das Unvorstellbare gehört zu diesen Taten und den dahinter liegenden Strategien, wie die Täter vorgegangen sind.

Über diese Erfahrungen und Reaktionen kann ich aber nicht einfach hinweggehen. Die persönlichen Nöte von Angehörigen, Geschwistern, Nichten und Neffen, oder auch von langjährigen Weggefährten nehme ich als Bischof sehr ernst. Zumal ich diesen Personen ja in allen Fällen zumuten muss, dass ich ihnen über die Aufrufe hinaus keine weiteren Informationen zu den Beschuldigungen zukommen lassen kann, schon gar nicht darüber, wer sie vorgetragen hat, weil ich den Schutz und die Anonymität der Betroffenen unbedingt wahren muss! Also laufen diese Personen, die den in den Aufrufen Genannten nahestehen, mit ihrem eigenen neu entfachten Interesse an Aufarbeitung an dieser Stelle wie gegen eine Wand. Ich kann ihnen gegenüber weder die in den Aufrufen Genannten rehabilitieren noch Beweise für das Geschehene vorlegen. Beides würde die Mitteilungen, die die Betroffenen gemacht haben, überfordern oder sie mit neuen Zweifeln belasten.

Das kann und will ich deshalb so nicht weiter fortsetzen!

Hinzu kommt, dass in einem Schreiben aus Rom im Februar dieses Jahres in beson­derer Weise auf den Persönlichkeitsschutz auch im Rahmen des geltenden Kirchen­rechtes hingewiesen wurde, der Priestern wie Laien und auch über den Tod hinaus gilt. Dieses Schreiben war zwar nicht direkt an uns adressiert, aber seine Ausfüh­rungen gelten in der gesamten Weltkirche. Darum sind dieses Dokument und seine klare Positionierung ebenfalls in meine Entscheidung zu einem Kurswechsel mit eingeflossen.

Das römische Schreiben lässt nicht unbedingt einen ernsthaften Willen der Katholischen Kirche erkennen, die Verbrechen der Vergangenheit aufzuarbeiten?

Das Thema des Schreibens liegt nicht im Bereich Aufarbeitung, sondern es macht Ausführungen dazu, dass auch das Kirchen­recht Persönlichkeitsrechte kennt und strikt schützt. Vor diesen Anspruch sind wir also in unseren Anstrengungen um Aufarbeitung im Bereich der Kirche gleich zweimal gestellt: vom staatlichen wie vom kirchlichen Recht her.

Umgekehrt dürfen wir nicht vergessen, dass Papst Franziskus das Kirchenrecht zum 1. Juni 2021 geändert hat. Auch im kirchlichen Gesetzbuch gilt sexualisierte Gewalt daher nicht mehr nur als Verstoß gegen die priesterlichen Versprechen, sondern als schwere Straftat gegen die Würde, das Leben und die Freiheit eines Menschen.

Welche Rolle haben die unterschiedlichen Gremien im Bistum für die Entscheidung in dieser Frage gespielt?

In den zurückliegenden Monaten habe ich das Thema in allen Gremien behandelt, die den Bischof auf der Diözesanebene beraten oder die eine eigene Zuständigkeit für das Themenfeld haben. An keiner Stelle war ich als derjenige, der die Haupt­verantwortung trägt, alleine unterwegs oder isoliert!

Ich habe erlebt, dass sowohl der Beraterstab, mein eigens eingerichteter Arbeits­stab, die Verantwortlichen im Bereich von PIA, die Unabhängige Aufarbeitungs­kommission (UAK) und der Betroffenenrat als auch die Leitungskonferenz, der Priesterrat und der Pastoralrat eine sehr differenzierte Sicht auf das Thema haben und sich jeweils sehr engagiert in die Beratungen einbringen.

Deshalb bin ich zuversichtlich, dass wir unsere Aufgaben im Bereich der Aufar­beitung und der Betroffenenorientierung auf einer weiterhin breit gegründeten Ent­scheidungsbasis und in vielfach geteilter Verantwortung mit großer Umsicht und Aufmerksamkeit fortsetzen können.