Rundbrief aus Tumaco

Ulrike Purrer Guardado berichtet aus Kolumbien

Unsere Maria und Josef mit Engeln und Hirten (c) Ulrike Purrer Guardado
Unsere Maria und Josef mit Engeln und Hirten
Datum:
Di. 7. Jan. 2020
Von:
Carina Delheit

Ihr Lieben,

von Herzen sende ich Euch allen meine besten Weihnachtsgrüße! Hier in Tumaco ist es - wie jedes Jahr - weder friedlich noch besinnlich und hat dennoch seinen ganz besonderen Zauber. Das haben wir in erster Linie den vielen Kindern zu verdanken, die während der gesamten Novene mit ihren selbstgebastelten Rasseln und unermüdlicher Weihnachtsfreude ins Centro Afro kamen. Wir Erwachsenen sind nun ein wenig erschöpft und freuen uns auf ein paar Tage zum Luftholen, ehe es dann in den ersten Tagen des neuen Jahres wieder kraftvoll mit einem vielseitigen Ferienprogramm losgeht.

Hinter Kolumbien liegt ein bewegtes Jahr. Ein Teil der ehemaligen FARC-Guerilla hat sich wiederbewaffnet und aus dem Friedensprozess zurückgezogen. Der Druck auf politisch engagierte Bewegungen ist groß, verschiedene bewaffnete Gruppen vertreiben ganze Dörfer von ihrem Land, und die Zahl der ermordeten Menschenrechtsverteidiger ist weiter gestiegen. Präsident Duque verkauft sich auf internationaler Bühne als Verteidiger des Friedens und lässt ihn realiter doch ausbluten. Zudem schürt er durch seine Privatisierungs- und Rentenreformpolitik noch zusätzlich die Unzufriedenheit. So hat die Zivilbevölkerung am 21. November 2019 zum Generalstreik aufgerufen. Hunderttausende gingen seitdem friedlich mit Transparenten und dem ohrenbetäubenden Klang von Kochtöpfen und Pfannen auf die Straßen, um sich Gehör zu verschaffen, doch Präsident Duque ist nicht verhandlungswillig, und seine Spezialeinheiten der Polizei reagierten mit maßloser Gewalt. So wird auch das Jahr 2020 in Kolumbien vom Ringen um Frieden und soziale Gerechtigkeit bestimmt sein.

Patronatsfest gegen Vertreibungen

Hier in Tumaco haben sich die Proteste in Grenzen gehalten, doch gewaltsame Vertreibungen sind nach wie vor traurige Realität. So sind einige Dörfer am ganz nahe gelegenen Rosario-Fluss inzwischen fast vollständig verlassen. Padre Daniel, mein Team-Kollege und Diözesanverantwortlicher für Katechese, hat deshalb ein Patronatsfest zum Anlass genommen, um wenigstens für ein Wochenende mit über 200 Personen zurückzukehren. Auf bunt geschmückten Booten, mit Trommeln und einem riesigen Mariengemälde erreichten wir das Dorf San Francisco. Alles war liebevoll geschmückt. Einen Kontrollposten des Militärs mussten wir passieren, doch ansonsten blieb es friedlich. Die ganze Nacht hindurch konnte getrommelt, getanzt und getrunken werden - in der Hoffnung, dass die Bewohner eines Tages ganz in ihre Dörfer zurückkehren können.
Am nächsten Morgen war die kleine Kapelle prall gefüllt. Lebendig ging es zu, denn es wurden 24 Kinder getauft. Sie und ihre Familien waren aus allen umliegenden Weilern gekommen. Unter den Gottesdienstbesuchern befanden sich auch einige Guerilleros, für die Padre Daniel deutliche Worte fand: "Es ist nicht rechtens, dass unschuldige Menschen ihre Dörfer verlassen müssen. Vielmehr sind es die bewaffneten Gruppen, die gehen müssen." Die Botschaft saß - ein Mutmacher und eindrückliches Zeichen der Hoffnung!

Wirksamkeit und Hoffnung

Unsere Prozesse und Aktionen müssen sich immer wieder von verschiedenen Seiten auf ihre Wirksamkeit hin befragen lassen. Was habt Ihr in diesem Jahr erreicht? Wie viele Jugendliche haben ihr Leben verändert? Die Entwicklungszusammenarbeit braucht griffige, bestenfalls sogar quantifizierbare Fortschritte. Doch manchmal besteht der Fortschritt ja vielleicht bereits darin, keinen Rückschritt zugelassen oder ein kleines Hoffnungszeichen gesetzt zu haben. Mit der zweitägigen Rückkehr auf das Dorf San Francisco haben wir weder die bewaffneten Gruppen vertrieben noch das Problem des Drogenhandels gelöst, das hinter den Vertreibungen steckt. Auch hat bisher keine Familie den Mut aufgebracht, tatsächlich dauerhaft in ihr Dorf zurückzukehren. War die Pilgerfahrt deshalb wirkungslos? Ich glaube nicht. Mich hat sie tief berührt und meine persönliche Flamme der Hoffnung auf Frieden ganz neu auflodern lassen.
Daira, eine unserer Jugendlichen, hatte den Rosario-Fluss bereits vor einigen Jahren verlassen müssen, nachdem ihr Vater ermordet worden war. Seitdem war sie nie mehr dorthin zurückgekehrt, und ihre Mutter hatte auch jetzt noch nicht die Kraft, sich der Fahrt zum Patronatsfest anzuschließen. Doch Daira war dabei, schweigsam und nachdenklich, aber strahlend. Sie gehört zu dieser neuen Generation, die zwar im Krieg geboren ist, diesen aber als überwindbar und Aufforderung zum Widerstand wahrnimmt. Die 17-jährige hat gerade ihr Abitur absolviert und möchte nun Jura studieren.

Integrale Fortbildungsprozesse

Daira gehört auch zu einer Gruppe von Jugendlichen, die während diesen gesamten Jahres an einem unserer Fortbildungsprozesse für Jugendleiter teilgenommen haben. In einer Reihe von Wochenendkursen und damit verknüpftem permanentem Engagement im Centro Afro geht es meiner Kollegin Neisy und mir dabei um das ganz individuelle Entdecken, Wachsen und Sich-Positionieren der Jugendlichen, in einem so komplexen Umfeld wie Tumaco.
Da spielt natürlich die eigene Vergangenheit eine große Rolle, viele seelische Wunden und Sprachlosigkeiten, aber auch die ganz konkrete Situation der eigenen Familie und Eltern, die nicht viel von Schule und einem Universitätsstudium halten. Es geht um eine kritische Verortung in der Geschichte Kolumbiens, Lateinamerikas und unserer globalisierten Welt, aber auch um Geschlechterrollen, Familienbilder und gewaltfreie Beziehungen. Zum Themenblock "Soziale Gerechtigkeit und Menschenrechte" gehören auch ganz lebenspraktische Übungen wie das Verfassen einfacher Rechtseingaben, wenn Dir - wie in Tumaco so häufig - das Recht auf Gesundheit, Bildung etc. verwehrt wird. Einige Jugendliche haben das Gelernte bereits mutig angewandt und damit Erfolg gehabt. Das gibt ihnen Selbstbewusstsein in der Auseinandersetzung mit der Willkür der Behörden und macht auch den anderen Kursteilnehmern Mut.
So gibt es also im Laufe des Fortbildungsprozesses so manche, kleine Fortschritte zu verzeichnen, auch im gelebten Miteinander und im Engagement der einzelnen in den verschiedenen Gruppen des Centro Afro, doch mit dem feierlichen Sektempfang am letzten Wochenende ist es natürlich nicht getan. Jetzt geht die praktische Umsetzung eigentlich erst so richtig los, für Neisy und mich also eine weiterführende Begleitung auf unbestimmte Zeit. Langfristige Zukunftsarbeit!

Es lohnt sich

Als wir vor knapp acht Jahren unsere ersten Jugendleiterfortbildungen durchführten, lernte ich Lucía näher kennen. Die damals 16-jährige gehörte zu den stillen Mädchen im Centro Afro, denn sie stammte von einem der kleinen Weiler am Caunapí-Fluss und war noch nicht so lange in Tumaco. Um die Schule abschließen zu können, war sie in die Stadt gekommen und lebte bei einer Tante. Sie würde die Erste in ihrer Familie mit abgeschlossenem Abitur sein. Ein Onkel war Polizist, der einzige Verwandte mit festem Arbeitsvertrag und monatlichem Einkommen, also wollte sie auch zur Polizei. Im Laufe unserer Seminare und persönlichen Gespräche begann sie dann jedoch, sich immer mehr für den soziopolitischen Kontext Tumacos zu interessieren und die negative Rolle der Polizei als bewaffnetem und korruptem Akteur zu hinterfragen und das hohe Risiko für ihre eigene Sicherheit abzuwägen. Gezielte Anschläge der Guerilla galten damals immer wieder der Polizei und dem Militär.
Zwei Jahre später legte Lucía erfolgreich ihr Abitur ab und hatte ihren Berufswunsch korrigiert. Ein geregeltes Einkommen konnte doch nicht der einzige Beweggrund für einen Beruf sein. So ging sie mit unserer Unterstützung nach Bogotá und erkämpfte sich dort ein Stipendium fürs Pädagogikstudium. Während dieser Studienjahre haben wir sie nie aus den Augen gelassen, immer wieder beraten, ermutigt und besucht, und auch sie hat die Verbindung zu Tumaco nie abreißen lassen. Für viele, die einmal den Sprung ins Landesinnere und die Großstadt geschafft haben, wird eine Rückkehr immer unattraktiver - nicht so für Lucía. Zu unserer großen Freude hat sie kürzlich als diplomierte Pädagogin eine Festanstellung beim Roten Kreuz hier in Tumaco erhalten, wo sie nun seit einigen Wochen vom Gewaltkonflikt betroffene Familien betreut. Acht Jahre der Begleitung haben sich also gelohnt - für Lucía und für die Region!

So danke ich auch Euch einmal mehr für alle Unterstüzung und vor allem für Euer Vertrauen in unsere manchmal unscheinbaren, aber langfristigen Prozesse!

Mit den besten Wünschen für ein friedliches neues Jahr,

Ihre/Eure Uli Purrer

 

Rundbrief Nr. 21 - Dezember 2019