Der Chocó und Corona

Ursula Holzapfel und Ulrich Kollwitz berichten

Impressionen aus Kolumbien
Impressionen aus Kolumbien
Datum:
Mo. 6. Apr. 2020
Von:
Carina Delheit

Quibdó, den 2. April 2020

Liebe Freundinnen und Freunde!

Im Moment gibt es offensichtlich auf der ganzen Welt nur noch ein Thema: Coronavirus! In allen Medien geht es jetzt fast ausschliesslich um diese Pandemie, ihre möglichen Auswirkungen, die aktuellsten Statistiken und ihre Glaubwürdigkeit, sowie die Diskussion über die Verhältnismässigkeit der jeweils getroffenen staatlichen Massnahmen. Die Welt steht still, besser gesagt, sie steht auf dem Kopf und deshalb wird gezwungenermassen dieses Thema auch zum Mittelpunkt unseres heutigen Rundbriefs.

Vorweg: es geht uns persönlich gut. Allerdings unterliegen wir, wie alle Kolumbianer, seit dem 24. März einer strengen Ausgangssperre. Jeder darf nur einmal die Woche einzeln das Haus verlassen, um die notwendigsten Einkäufe und sonstige wichtige Besorgungen zu machen. Die Kontrolle richtet sich nach der letzten Nummer des Personalausweises. Uli darf dienstags raus und Ursula mittwochs. Es gibt Ausnahmeregelungen für Personen, die lebenswichtigen Tätigkeiten nachgehen.

Der Fernverkehr über Land, Luft und Wasser ist total eingestellt. Schulen und Universitäten sind schon seit dem 16. März geschlossen. Dabei wurde in Kolumbien erst am 6. März der erste positive Fall registriert. Mittlerweile gibt es im ganzen Land schon über tausend positiv Getestete und 19 Todesfälle. Im Chocó, der etwa so gross ist wie die Schweiz und eine halbe Million Einwohner hat, ist bisher noch niemand positiv getestet worden und auch noch keiner gestorben. Das ist zuerst einmal beruhigend und wir hoffen, dass die Pandemie hier glimpflich verläuft. Der Chocó hat kaum Zufahrtswege und war schon immer ziemlich abgelegen und isoliert. Ausserdem haben wir hier keine Industrie und daher kaum Luftverschmutzung. Und die besonders gefährdeten Bevölkerungsgruppen, alte und kranke Menschen, sind bedeutend kleiner als in den grossen Ballungszentren, denn die meisten sind schon längst vorher an allen möglichen Krankheiten oder der nicht enden wollenden „Bleivergiftung“ gestorben.

Jetzt bleibt abzuwarten, wie sich die drastischen Vorbeuge- und Kontrollmassnahmen im alltäglichen Überlebenskampf auswirken. Wir persönlich gehören zu einer privilegierten Minderheit, die ein festes Einkommen und ein gemütliches Heim haben. Das haben etwa 50% der Kolumbianer nicht. Hier im Chocó leben mindestens 90% der Familien von der Hand in den Mund und darüber hinaus in den Städten auch unter extrem beengten Wohnverhältnissen und ohne fliessendes Wasser. Viele müssen ihr tägliches Überleben auf der Strasse sichern und ihr Zuhause ist nur ein Schlafplatz. Zwar bietet der Staat im Moment Hilfen für die Armen in Form von Geldzuweisungen und Lebensmittelpaketen an. Doch es gibt schon viele Klagen, dass längst nicht Alle berücksichtigt werden. So wurden die fast 500 Flüchtlinge aus Venezuela, die es seit etwa einem Jahr hierhin verschlagen hat, bisher bei der Verteilung der Lebensmittel übergangen. Wir helfen ihnen dabei, Listen zu erstellen, damit sie in Zukunft auch ihren Anteil bekommen.

In schwierigen Situationen waren es die Menschen hier schon immer gewohnt, sich selbst zu helfen. Ihr erinnert Euch vielleicht noch an die farbenfrohen Bilder in unserem letzten Rundbrief. Heute haben wir wieder welche. Aber diesesmal gehts bei den Frauen nicht um Bilder über das humanitäre Abkommen sondern ganz einfach um die Herstellung von Mund-Nasen-Schutzmasken, die hier Mangelware sind. Die Diskusionen in Deutschland über fehlende Ausrüstung kommen mir bei dem Wenigen, was wir hier haben, schon fast lächerlich vor. Wir haben diese selbstgenähten oder gar keine. Denn sollte in Quibdó eine FFPMaske auftauchen, ist doch klar, dass sie fürs medizinische Personal ist.

Schon in den 80er Jahren, als wir mit unseren Teams ganz engagiert in der Gesundheitspastoral gearbeitet haben, kamen hin und wieder Ärzte und kritisierten unsere Arbeit. Damals wollten wir schon das Handtuch werfen. Aber dann gab es einen vernünftigen Menschen, der meinte, wenn Ihr 80 % helfen könnt, müsst ihr nicht auf den warten, der hundertprozentige Hilfe verspricht, aber dann doch nicht kommt.

Trotz all der Unwägbarkeiten und widersprüchlichen Informationen dürfte sowohl in den reichen Industrieländern als auch in einem Schwellenland wie Kolumbien und ganz besonders in den schon immer vernachlässigten Regionen wie dem Chocó eines klar sein: das öffentliche Gesundheitswesen muss reformiert werden. Mittlerweile ist die medizinische Versorgung kaum noch irgenwo eine garantierte Dienstleistung sondern ein Geschäft mit möglichst hoher Rendite. Die erkrankten Menschen sind keine
Patienten mehr, sondern Kunden. Wer nicht zahlungsfähig ist, hat Pech gehabt. Dieses weltweite Desaster ist eindeutig eine Folge der unseligen Privatisierungswelle des neoliberalen Wirtschaftsmodells. Wenn nun an Hand der aktuellen Krise die Dogmen dieses Wirtschaftsmodells endlich vor aller Augen als falsch und ineffizient entlarvt werden, dann könnte die Coronaviruspandemie am Ende sogar etwas Gutes haben. Deshalb gilt es jetzt, überall die Gunst der Stunde zu nutzen und von den Regierenden eine menschenwürdige Gesundheitsversorgung für die Zukunft einzufordern. Leider sind hier im Moment alle Protestaktionen auf den Strassen verboten. Wir sind gespannt, ob den Chocoanern trotzdem Alternativen einfallen.

Bezüglich der miserablen Gesundheitsversorgung hier wurden wir angefragt, ob wir diese Krisenzeit nicht lieber in Deutschland verbringen wollten. Wir haben uns entschieden hier zu bleiben, denn wir haben schon viele bedrohlich Krisen gut hinter uns gebracht und hoffen, dass wir auch diese heil überstehen. Ob wir uns im Sommer jedoch sehen werden, kann allerdings jetzt niemand wissen.

Wir wollen schliessen mit einem Satz, der in grosser Leuchtschrift an einem Hochhaus in Santiago de Chile geschrieben steht: „Wir werden nicht zur Normaltät zurück kehren, denn die Normalität war das Problem“.

Bleibt gesund und lasst Euch die Osterfreude nicht nehmen!

Herzliche Grüsse aus dem Chocó,
Ursula und Uli