Interview mit Theologin, Autorin, Lektorin und Dozentin Dorothee Boss. :Wege aus der Einsamkeit.

Frau Boss, was hat Sie dazu bewegt, sich mit dem Thema Einsamkeit auseinanderzusetzen?
Das Thema Einsamkeit ist eigentlich zu mir gekommen, indem mich der Echter Verlag gebeten hatte, ein Buch darüber zu schreiben. Unter dem Titel „Über das Alleinsein - Impulse für das Ich“ ist es im Jahr 2017 veröffentlicht worden. Danach bin ich als Referentin zum Thema angefragt worden bzw. habe selbst Veranstaltungen angeboten, aus denen sich der Schwerpunkt „Wege aus der Einsamkeit“ entwickelte. Die Corona-Pandemie hat dem Ganzen dann noch mal einen richtigen Schub gegeben, sodass ich seither mit der Aachener Kontakt- und Informationsstelle für Selbsthilfe (akis) in der Volkshochschule und vielen weiteren Sozial- und Bildungseinrichtun-gen in der Region und überregional zum Thema zusammenarbeite. 2023 habe ich das erste Mal mit der Akademie des Bistums Aachen den Workshop „Einsamkeit 50Plus – Schritt für Schritt hinaus ins Leben“ angeboten.
Vom zunehmenden gesellschaftlichen Interesse und der Arbeit des Kompetenznetzwerkes Ein-samkeit (KNE), in dem sich renommierte Forscher*innen mit den Ursachen und Folgen von Ein-samkeit in Deutschland befassen und verschiedene Maßnahmen zur Prävention und Interventi-on entwickeln, profitiere ich natürlich.
Was ist überhaupt Einsamkeit?
Im deutschen Sprachgebrauch wird zwischen Einsamkeit und Alleinsein ganz klar unterschieden. Alleinsein ist das objektive Fehlen von anderen Personen in direkter Nähe. Einsamkeit hingegen ist ein schmerzhaftes leidvolles Erleben unterschiedlicher Ausprägung, sodass Beziehungen nicht ausreichen bzw. als nicht ausreichend erlebt werden. Qualitativ, dass Beziehungen nicht die emotionale Qualität haben, die ich brauche, aber auch quantitativ, dass die Anzahl der Menschen, mit denen ich in Verbindung bin, nicht als ausreichend erlebt werden. Das große Problem bei der Einsamkeit ist nicht, dass sich Menschen gelegentlich oder zeitweise einsam fühlen, denn das gehört zum Menschsein dazu, sondern dass Einsamkeitsgefühle lange anhalten, chronifizieren. Das kann auf Dauer zu Gesundheitsrisiken führen und zur Entwicklung von Herzkreislaufkrankheiten, Depression, Angststörung, Sucht oder Demenz beitragen.
Was ist ihr persönlicher Ansporn, zum Thema Einsamkeit zu arbeiten?
Was ich spannend finde und was mich motiviert ist, dass wir Menschen eigentlich das Instrumentarium haben, um eben nicht einsam zu sein. Wir sind soziale Gruppenwesen, keine Eisbären, die allein durch die Arktis streifen. Von unserer gesamten Ausstattung her sind wir schon als Baby sehr gut in der Lage, mit anderen zu kommunizieren. Einsame Menschen ziehen sich eher sozial zurück, durch mangelnde Gelegenheiten oder aufgrund schlechter sozialer Erfahrungen. Oft reicht es nur aus, wieder aktiv auf andere Menschen zuzugehen. In diesem Sinn sehe ich mich als Motivatorin.
Was ist der erste Schritt, um Einsamkeit zu überwinden?
Wichtig ist zu allererst, dass man Einsamkeit als Gefühl akzeptiert und es nicht wegdrängt, weil es möglicherweise tabuisiert ist. Ich kann mich entsinnen, dass eine Frau am Ende des Work-shops im Jahre 2023 in der Akademie des Bistums Aachen, sinngemäß ausdrückte: „Ich fühle mich jetzt schon besser, weil ich weiß, dass ich nicht selbst an meiner Einsamkeit schuld bin und kein Loser bin.“ Stattdessen ist Einsamkeit auch ein Gefühl, was zum Leben dazugehört. Und wenn man das in einem ersten Schritt akzeptiert, ist schon viel gewonnen.
Wie arbeiten Sie dann weiter?
Mein Konzept besteht aus vier Säulen, die in der Fachliteratur verankert sind und auch aus meiner eigenen praktischen Erfahrung erwachsen:
Selbstfürsorge: Sich selber pflegen, auch wenn man sich alleine und einsam fühlt. Einsame Menschen neigen eher zu negativen Selbst- und Fremdzuschreibungen. Wenn sie jemand ande-ren sehen, denken sie: „Der könnte aber was gegen mich haben – der mag mich nicht – ich bin nicht attraktiv genug“, und ziehen sich in ihr Schneckenhaus zurück. Demgegenüber steht die Pflege von positiven Gedanken und wertschätzenden Vorstellungen von mir selbst und auch von anderen.
Beziehungsnetz aufbauen: Sich regelmäßig mit Menschen zu treffen, alte Kontakte reaktivie-ren, kontinuierliche Termine verabreden und nicht zu oft absagen. Dadurch werden Bindungs-verhalten aufgebaut und Bindungshormone ausgeschüttet.
Engagieren für andere: Das Ehrenamt ist essenziell, gibt sehr viel zurück. Es geht darum, Gruppen zu finden und das eigene
Kommunikationsverhalten zu pflegen und zu verändern. Das sind Dinge, die jeder kennt: den anderen ausreden lassen, wertschätzen, Störungen ansprechen, ein Lächeln schenken. Das sind einfache soziale Fähigkeiten, die man auch trainieren kann.
Professionelle Hilfe suchen: Wenn man chronisch einsam und psychisch belastet ist, muss man professionelle Hilfe suchen. Dazu braucht es für diese Menschen auch zugehende Hilfen – jemand, der zu ihnen nach Hause kommt und mit ihnen gemeinsam soziale Kontakte aufbauen hilft. Leider gibt es dafür – soweit ich weiß – noch kaum Angebote.
Was muss gesellschaftlich passieren, damit Einsamkeit mehr thematisiert und akzeptiert wird?
Es ist ähnlich wie bei psychischen Erkrankungen. Es muss mehr über Einsamkeit gesprochen und veröffentlicht werden. Das Wissen zu Bewältigungs- und Lösungsstrategien muss zunehmen. Wobei Einsamkeit keine Krankheit ist, sondern ein Symptom. Die Öffentlichkeit muss besser informiert werden – in Schulen oder Einrichtungen. Wir als Gesellschaft müssen mehr kooperieren, entgegen dem Optimierungswahn und der zunehmenden Individualisierung. Einsamkeit ist letztlich auch ein demokratisches Problem: Sie gefährdet unsere Demokratie, wenn wir uns in unsere vier Wände zurückziehen und nicht miteinander kooperieren. Sie kann auf Dauer die Bindungen zwischen Menschen, in unserer Gesellschaft gefährden. Wobei ich da optimis-tisch bin, denn Deutschland liegt im europäischen Vergleich – was die Einsamkeitsbelastung angeht – im Mittelfeld. Dies liegt u. a. am intensiven Vereinsleben, das Gruppen bindet und Menschen stärkt.
Welche Altersgruppen sind besonders von Einsamkeit betroffen und sollte Prävention einsetzen?
Laut Bertelsmann-Studie aus dem Jahr 2024 fühlen sich 46 Prozent der jungen Menschen zwischen 16 und 30 einsam. Bei den über 65-Jährigen sind es laut Robert-Koch-Institut etwa 19 Prozent – mit einem Anstieg im hohen Alter – besonders bei Frauen, da sie ihre Partner oft überleben.
Um Einsamkeit entgegenzuwirken, muss früh bei jungen Menschen angesetzt werden. Man muss viele Angebote schaffen, die Jugendliche wirklich interessieren – und sie aktiv in die Gestaltung einbeziehen. Veranstaltungen sollten gemeinsam mit jungen Menschen entwickelt werden. Kirche hatte früher diese wichtige Funktion, Menschen zu binden, etwa durch Jugendarbeit, Ferienfreizeiten oder Jugendgottesdienste. Das ist heute rückläufig, da braucht es neue Ideen. Die jüngeren Generationen sind digital sozialisiert. Es ist wichtig, digitale Kanäle zu nutzen, um sich zu vernetzen – und dann analoge Begegnungen zu ermöglichen. Denn echte Bindung entsteht durch persönliche Begegnung: sich regelmäßig sehen, die Hand geben, miteinander sprechen. Das aktiviert unsere sozialen Fähigkeiten und stärkt Gemeinschaft. Auch andere Institutionen wie Schulen, Hochschulen und soziale Einrichtungen müssen zur Prävention von Einsamkeit mit ins Boot geholt werden.