Alexander Schüller sieht Vorlesen als wichtige Beziehungspflege:Besondere Nähe mit Nachhaltigkeitseffekt

Am 21. November ist es wieder soweit: Deutschland liest vor. Der bundesweite Vorlesetag findet in diesem Jahr bereits zum 22. Mal statt und steht unter dem Motto „Vorlesen spricht Deine Sprache“. Es unterstreicht, wie vielseitig Vorlesen ist und zeigt gleichzeitig, dass jede einzelne Sprache und Stimme zählen. Anlässlich des Vorlesetags haben wir mit Dr. Alexander Schüller, Leiter des Katechetischen Instituts, über das Vorlesen und die Katholischen Büchereien im Bistum Aachen gesprochen.
Warum ist das Vorlesen so wichtig?
Schüller: Mir steht heute noch genau vor Augen, wie mir meine Oma die Märchen von Hauff, Bechstein, Andersen und der Gebrüder Grimm vorgelesen hat. Das war Mitte der 1980-er Jahre. Eine wunderbare Erinnerung. Vorlesen schafft eine ganz besondere Nähe mit Nachhaltigkeitseffekt – nicht nur zum Buch, sondern auch zu dem Menschen, der das Vorgelesene mit ihrer/seiner Stimme auf einzigartige Weise lebendig macht. Vorlesen ist Beziehungspflege: Man kann sich in einer Atmosphäre der Geborgenheit in die fremde Erzählwelt hineinfallen lassen. Man kann die inneren Bilder, die die Fantasie aus den Sätzen formt, gelassen betrachten, sogar die furchterregendsten, weil man nicht allein ist und alles durch eine vertraute Stimme zu hören bekommt. Man kann sich ganz auf den Augenblick konzentrieren und dabei geradezu spielerisch neue Denk-, Fühl- und Sprechmöglichkeiten entdecken. Diese Selbsterweiterung in Resonanz zu einem Gegenüber ereignet sich beim Vorlesen. Und wie einfach, wie leicht fühlt sie sich an. Kein Wunder, dass Kinder, denen regelmäßig vorgelesen wird, bald Lust bekommen, selbst zu lesen und vorzulesen.
Die Kirche von Aachen fördert Katholische Öffentliche Büchereien. Warum?
Schüller: Die Kirche von Aachen stellt sich in der Nachfolge Jesu auch kulturell in den Dienst der Menschen. Wir nennen dies „kulturelle Diakonie“, und das heißt: Wir möchten Menschen überall und jederzeit dabei unterstützen, die ihnen von Gott gegebenen Talente nach ihren eigenen Vorstellungen zu bearbeiten, zu pflegen und dadurch gleichsam zu ehren. All das umfasst im ursprünglichen Sinn unser Wort Kultur. Doch wir wissen, dass nicht alle Menschen einen unverstellten Zugang zu jenen kulturellen Angeboten haben, die ihren Interessen und Neigungen dienlich sind. Romane und Sachbücher, Hörbücher und CDs kosten Geld – und manchmal mehr, als sich Menschen leisten können. Die Katholischen Öffentlichen Büchereien bieten deshalb ihren Nutzerinnen und Nutzern eine Auswahl verschiedener Medien an. Da ist für jeden etwas dabei, noch dazu leicht zugänglich und wohnortnah. Darüber hinaus kümmern sich die Büchereien um Leseförderung – und leisten damit einen wichtigen Beitrag dazu, dass alle Menschen in unserer Gesellschaft unabhängig von ihrer Herkunft die gleichen Chancen auf Bildung haben. Denn mit den vielfältigen Angeboten der Büchereien können wir Menschen im gesamten pastoralen Raum erreichen. Dafür ist Handeln wichtiger als Reden. Die Katholischen Öffentlichen Büchereien sind nichts anderes als Ermöglichungsräume, an denen die Kirche als Solidar- und Handlungsgemeinschaft erfahrbar wird.
Wie steht es hier mit der Digitalisierung?
Schüller: Wie alle Bibliotheken stellen sich auch die Katholischen Öffentlichen Büchereien, ob groß oder klein, den Herausforderungen der Digitalisierung – und das mit spürbarem Erfolg. Nahezu die Hälfte unserer Büchereien bietet bereits ganz selbstverständlich eBooks, eAudio und ePaper für Erwachsene und Kinder an. Das Angebot des Bistums Aachen finden Sie übrigens unter leihbook.de.
Was ist besser zum Vorlesen geeignet: ein gedrucktes Buch oder digitale Medien?
Schüller: Das kommt ganz drauf an. Für Kinder empfehle ich das gedruckte Buch. Denn das Vorlesen wird zu einem unauslöschlichen Erinnerungsaugenblick ganz wesentlich durch die Atmosphäre. Dazu gehört der Ort, an dem wir uns vorlesen lassen, der Mensch, der uns vorliest, und nicht zuletzt das Buch, das eine bestimmte Aufmachung besitzt, das ich in die Hand nehmen, an dem ich riechen und dessen Seiten ich beim Umblättern rascheln hören kann. Lange Wartezeiten z.B. beim Kinderarzt kann man natürlich mit einem eBook überbrücken, da muss man kein dickes Buch mit sich schleppen. Ich persönlich würde zum Vorlesen – und übrigens auch zum Lesen – aber immer das gedruckte Buch vorziehen. Aber das ist eine persönliche Präferenz.