Predigt Bischof Dr. Helmut Dieser zur Spendung der Firmung an Erwachsene am 15. November 2020
„Unsere Kirche hat über ganz lange Zeit hin die Schicksale der Kinder und Jugendlichen, die von Klerikern sexuell missbraucht wurden, vergraben wie etwas Totes“, sagt Bischof Dr. Helmut Dieser in seiner Predigt am 15. November 2020 zur Spendung der Firmung an Erwachsene. Mit Veröffentlichung des Externen Gutachtens durch eine Münchener Anwaltskanzlei könne sich nunmehr jeder selbst ein Bild machen. „Transparenz und Aufklärung stehen im Bistum Aachen an erster Stelle“, unterstreicht Bischof Dr. Dieser.
Liebe Schwestern und Brüder,
Die Gleichnisse Jesu sind unausschöpflich.
Sie heben hervor, was jeder Mensch aus eigener Lebenserfahrung nachvollziehen kann. Was aber im normalen Leben gilt, sollen wir übertragen auch auf Gott und auf seine Bedeutung für unser Leben. Die Gleichnisse sprechen dann immer neu zu uns, wenn wir es schaffen, ihre Einleuchtungskraft auf unsere heutigen Fragen anzuwenden.
Im Gleichnis vom anvertrauten Geld kommt es am meisten auf den dritten Knecht an. Was macht der und worin liegt der Skandal?
Eigentlich tut er was Vernünftiges. In keinem orientalischen Wohnhaus gab es zur Zeit Jesu einbruchssichere Verstecke oder gar Tresore. Deshalb vergräbt der Knecht das anvertraute Talent. Nur so konnte man ihn später nicht haftbar machen, wenn das Talent gestohlen worden wäre. Der dritte Knecht will sich auf alle Fälle schadlos halten. Juristisch sauber, aber trotzdem total verkehrt.
Er hat seine Rechnung ohne seinen Herrn gemacht.
Denn der fordert nicht nur zurück, was ihm gehört, sondern er will auch Gewinn sehen: Was dir anvertraut wurde, war etwas Lebendiges. Darin lagen alle Chancen, dass viel Gutes daraus werden sollte für mich und dich und viele andere.
Du aber hast etwas Lebendiges wie etwas Totes vergraben.
Die Überlebenden des Missbrauchs
Und damit, Schwestern und Brüder, bin ich bei einer möglichen Übertragung dieser Einleuchtung des Gleichnisses auf unsere heutigen Fragen. Und das ist dann nicht weniger skandalös und schmerzhaft als das, was der Knecht erlebt.
Unsere Kirche hat über ganz lange Zeit hin die Schicksale der Kinder, und Jugendlichen, die von Klerikern sexuell missbraucht wurden, vergraben wie etwas Totes. Die Betroffenen selber aber sagen: Wir sind Überlebende des Missbrauchs.
Zuerst wurden ihre Schicksale jahrelang vertuscht und geleugnet. Und nachdem das nicht mehr möglich war, blieb bis heute vergraben, wer die Verantwortlichen im Haushalt des Dienstherren waren, die die Täter nicht gestoppt haben, und warum das so lange so geblieben ist.
Externes Gutachten: Nicht das Ende der Aufarbeitung im Bistum Aachen
In der vergangenen Woche haben wir darüber für unser Bistum ein Gutachten in Empfang genommen. Jeder kann es lesen.
Dass wir alle als Bistumsgemeinschaft und mit uns die gesamte Öffentlichkeit das jetzt erleben, das lässt die Brisanz von Jesu Gleichnis Jesu für uns spürbar werden. Ja, es gibt den Tag, an dem der Herr zurückkommt und Rechenschaft verlangt!
Unser Gutachten ist davon nur ein winziger Teil. Die Schicksale der missbrauchten Kinder, ja sie selbst waren uns vom Herrn anvertraut. Wie jedes Menschenleben gehören sie aber allein ihm, niemand sonst. Deshalb fordert Gott von uns strengere Rechenschaft über sie und ihr Leiden als jedes Gutachten.
Niemand darf ihre Schicksale vergraben. Zuerst muss gelten: die Täter sind an ihnen schwer schuldig geworden. Indem wir aber jetzt das Gutachten akzeptieren und auswerten, erkennen wir an, dass auch die schuldig geworden sind, die ihr Leid leugnen und vergraben wollten.
Darum ist jetzt keine Zeit zum Aufatmen und Sich-sicher-Fühlen, sondern, wie es im Gleichnis heißt, zum Heulen und Zähneknirschen.
Der Apostel Paulus schreibt an die Gemeinde in Thessalonich: „Während die Menschen sagen: Friede und Sicherheit, kommt plötzlich Verderben über sie […] und es gibt kein Entrinnen“. Es geht bei der Aufarbeitung des Missbrauchs in unserer Kirche nicht nur um die Glaubwürdigkeit der Kirche. Es geht auch um das Verderben, das denen droht, die selber nicht ins Licht kommen wollen und sich durch Verleugnen in Sicherheit wähnen.
Und es geht darum, dass endlich die Überlebenden des Missbrauchs mit uns in der Kirche wieder zustimmen können in das Wort des Apostels: „Wir gehören nicht der Nacht und nicht der Finsternis.“ Wir alle sind Töchter und Söhne des Lichts, Töchter und Söhne des Tages.
Selbstkritische Auseinandersetzung: „Wir werden daraus lernen.“
Das Gutachten, das wir nun seit ein paar Tagen alle lesen können, ist darum ein Anfang: Wir werden uns damit selbstkritisch auseinandersetzen und daraus lernen.
Was darin steht, betrifft aber nicht nur die Vergangenheit und die, deren Namen ausdrücklich genannt werden. Es betrifft jeden von uns in den Verantwortlichkeiten, in denen wir heute stehen, in und außerhalb der Kirche. Nur so werden wir fähig, in dem Licht zu leben, in das wir durch Jesus und sein Evangelium gerufen sind.
Und das, Schwestern und Brüder, gilt für alle Bereiche unseres Lebens. Wir gehören nicht der Nacht und nicht der Finsternis, welch ein großes Wort! Alle Aufarbeitung, alle Reue und Versöhnung, die wir in diesem Leben anerkennen und verwirklichen, werden wir am Tag, an dem der Herr endgültig Rechenschaft verlangt, nicht mehr nötig haben.
Denn dieses Leben hat uneingeschränkt Bedeutung für das kommende Leben. Aus diesem Leben hier auf Erden wird Gott das neue ewige Leben machen. Das bedeuten im Gleichnis die Talente und ihre verschiedene Zahl. Sie sind unsere eigene Lebendigkeit, unsere Chancen, unsere Begabungen, unsere Mitmenschen, mit denen zusammen wir lebendig sind und für die wir auch mit verantwortlich sind.
Keiner kann für sich alleine Gott gefallen wollen.
Nur das Nehmen und Geben, das gegenseitige Gelten-Lassen und Mutmachen, das Vertrauen und Teilen mit den Anderen vermehrt das, was uns von Gott anvertraut wurde.
Darum sagt der Herr im Gleichnis: „Nehmt ihm das eine Talent weg und gebt es dem, der [aus seinen fünf] die zehn Talente [gemacht] hat“: Wer keinen guten Austausch mit anderen hatte und darum auch nicht dazu beigetragen hat, dass die anderen lebendig werden konnten, der hat am Ende nichts mitzubringen für das Freudenfest unseres Herrn.
Glaubwürdigkeit zurückgewinnen
Liebe Schwestern und Brüder, die heute gefirmt werden:
Was der Herr Ihnen heute anvertraut, ist etwas Lebendiges: Denn sein Geist ist voller Gaben. Die Gaben des Heiligen Geistes verbinden sich mit Ihrem Geist, mit Ihrer Seele, mit Ihren natürlichen Anlagen und Fähigkeiten. So werden Talente daraus für das Reich Gottes, und es kommt dabei nicht darauf an, ob es fünf, zwei oder eines sind. Es kommt darauf an, dass Sie sie lebendig machen in Ihrem Leben.
Ihre Firmung heute ist so etwas wie ein Siegel in Ihrer Seele, das sagt: Wir gehören nicht uns selbst. Wir haben uns das Leben nicht selber gegeben, uns nicht ausgesucht, wo und wann wir leben und in welchen Verhältnissen. Das Siegel der Heiligen Salbung sagt: Du gehörst Gott. Er stellt dich mit seinen Gaben ins Licht, in den hellen Tag, um leben und wirken zu können.
In der Lesung aus dem Buch der Sprichwörter haben wir heute dafür ein ideales Bild gezeigt bekommen. Es stammt zwar aus den damaligen kulturellen Verhältnissen, aus dem häuslichen Zusammenleben von Frau und Mann. Entscheidend ist darin das tiefe uneingeschränkte Vertrauen: „Das Herz ihres Mannes vertraut auf sie“. Darum ist die Frau unermüdlich tätig - nicht in Sorge für sich selbst, sondern für alle, die im Haus leben.
So sieht Gott unser Zusammenleben, so will er es mit den Gaben des Heiligen Geistes in uns verwirklichen: voller Vertrauen und voller Einsatz füreinander, jeder mit seinen Talenten.
Ich wünsche Ihnen, dass Sie heute durch Ihre Firmung Mut bekommen, sich für andere einzusetzen, Vertrauen in Andere zu wagen und dabei zu spüren: Gott macht das möglich, das ist seine Kraft in uns.
Und ich hoffe, dass wir alle durch das Wort Gottes und das Wirken des Heiligen Geistes in uns dieses ideale Bild auch für die Kirche wieder mit Leben und Glaubwürdigkeit füllen können: mit vollem Vertrauen und Einsatz füreinander, weil wir Gott gehören, nicht uns selbst. Amen.
Es gilt das gesprochene Wort