Predigt von Bischof Dr. Helmut Dieser an Christi Himmelfahrt, 26. Mai 2022, in der Hohen Domkirche in Aachen vor der Verleihung des Karlspreises an die belarussischen Bürgerrechtlerinnen Maria Kalesnikava (vertreten durch ihre Schwester Tatsiana Khomich), Swetlana Tichanowskaja und Veronica Tsepkalo
L1: Apg 1, 1-11; L2: Eph 1, 17-23; Ev: Lk 24, 46-53.
Es gilt das gesprochene Wort
Sehr geehrte Preisträgerinnen, Frau Khomich für Ihre Schwester, Frau Kalesnikava, Frau Tichanowskaja und Frau Tsepkalo,
sehr geehrte Festgäste aus Nah und Fern,
liebe Schwestern und Brüder im Glauben,
in einer Umfrage unter Menschen, die zur Europäischen Union gehören, wurde die Frage gestellt: Was macht es für Sie aus, Europäer zu sein? 80 Prozent der Befragten gaben zur Antwort: Wohlwollen gegenüber anderen. (So in einem Interview mit Florence Gaub und Jens Siegert, in: DIE ZEIT 18, 28. April 2022, S. 10.)
„Wohlwollen gegenüber anderen“: Wenn das dabei herauskommt, dass Menschen und ihre Heimatländer zur EU gehören, dann können wir alle nur allzu gut verstehen, weshalb Sie, liebe Preisträgerinnen, mit Ihrer ganzen Kraft dafür kämpfen, dass dieser Traum auch für Ihr Heimatland Belarus wahr wird, und dafür sogar Ihre eigene Sicherheit eingesetzt haben: Wohlwollen gegenüber anderen!
Das aber ist das genaue Gegenteil von dem, was Ihr Heimatland Belarus derzeit erleiden muss und noch zerstörerischer und mörderischer Ihr Nachbarland, die Ukraine.
Dort tobt ein verbrecherischer Angriffs- und Vernichtungskrieg, entfesselt von einem Diktator und seinem Regime.
In Ihrer Heimat hat ein anderer Diktator und Langzeitherrscher die Wahlen gefälscht und jede Opposition mit brutaler Unterdrückung, Willkür, Folter und drakonischen Gefängnisstrafen überzogen. Eine unserer Preisträgerinnen, Frau Kalesnikava, wurde zu 11 Jahren Haft verurteilt, 1.200 politische Gefangene gibt es derzeit in Belarus. Sie beide, Frau Tichanowskaja und Frau Tsepkalo, konnten sich dem nur durch Flucht entziehen. Dabei ist sicher davon auszugehen, dass Sie, Frau Tichanowskaja, die 2020 mehrheitlich gewählte Präsidentin Ihres Landes sind, die heute hier in Aachen den Karlspreis entgegen nehmen darf. Sie alle drei stehen damit für Ihr Heimatland und für die demokratischen Kräfte von Belarus, denen die Zukunft gehört.
Und der Karlspreis soll genau das unterstreichen, was 80 % der Menschen in der Umfrage in der EU sagen: Europa, das ist und das soll sein: Wohlwollen gegenüber anderen.
Und damit eben: kein Selbstzweck, nicht selbst das höchste erstrebenswerte Ziel auf Erden, sondern eine Staats- und Gesellschaftsform, die die Menschlichkeit des Menschen wahrt, sie fördert und verteidigt, und dazu gehört: der Schutz des Lebens, Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Bewegungsfreiheit, Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung, freie demokratische Willensbildung und anderes mehr. Wer diese Werte genießen darf, wer sie zu schätzen lernt und sie deshalb verteidigen will, wer sie für sich und sein Land schmerzlich erkämpfen will, braucht dafür keinen Feind und kein Feindbild. Nicht die Unterdrückung oder die Auslöschung der anderen sind dann das Ziel des eigenen Strebens, sondern das Geltenlassen, Anerkennen und der freie Austausch mit anderen auf der Basis all dieser europäischen Werte.
Die Europäische Union braucht niemanden zu erobern oder zu vernichten, um sie selbst zu sein und zu bleiben, aber sie lernt gerade in tiefer und brutaler Erschütterung, wie gefährdet ihre Werte und Errungenschaften sind und wie viele Menschen sterben müssen und um ihr Lebensglück gebracht werden, die ihre Werte auch für sich anstreben.
Sehr geehrte Preisträgerinnen, Sie drei stehen mit der gesamten demokratischen Bewegung Ihres Landes für einen Gegenentwurf zur derzeitigen Diktatur in Belarus. Und damit leisten Sie für Ihr Heimatland etwas unendlich Wertvolles: Sie füllen das Nichts, die Leere und die Sinnlosigkeit, die der Diktator mit seiner Brutalität überdeckt und die der Angriffskrieg gegen die Ukraine mit unsäglichen Lügen und Propagandagewalt kaschiert: Wehe, wenn diese Leere und Sinnlosigkeit den Menschen Russlands bewusst wird! Womit soll es denn positiv gefüllt werden? Welche Idee des Zusammenlebens kann dann das Menschsein sichern und die Menschlichkeit neu aufbauen?
In Ihrem Heimatland wird man sich nach dem Ende der Diktatur an Sie und die Bürgerbewegung erinnern, die Sie ausgelöst haben, und Ihr Eintreten für Freiheit, Rechtsstaatlickeit und Demokratie werden sich dann als unendlich konstruktiv erweisen und Ihr Land und die Menschen retten und aufbauen.
In einem Ihrer jüngsten Interviews, haben Sie, Frau Tichanowskaja, gesagt: „Wir [das Volk von Belarus] müssen uns in der der europäischen Gemeinschaft willkommen und respektiert fühlen. Und nicht das Gefühl haben, dass es in der russischen Sphäre verlassen oder zurückgelassen wird. Diese Perspektive muss stark und klar sein.“ (Aachener Nachrichten 26.04.2022, S. 4).
Mit dieser Umschreibung spielen Sie an auf den Begriff der „russischen Welt“ (russki mir), mit dem der Angriffskrieg auf die Ukraine begründet werden soll und mit dem auch Ihr Land Belarus von Europa abgezogen werden soll.
Traurig und beschämend ist es, dass auch der derzeitige Patriarch der russisch-orthodoxen Kirche dieses imperialistische Konzept vertritt und es religiös verbrämt bis zum Versuch, den Angriffskrieg als berechtigt erscheinen zu lassen gegen alle, die sich aus der russischen Welt lösen wollen. Mit dieser Positionierung verlässt der russisch-orthodoxe Patriarch in meinen Augen die christliche Ökumene.
Heute möchte ich deshalb diese Position in aller Form zurückweisen und zwar mit den Worten der heutigen Festtagslesung: „Herr, stellst du in dieser Zeit das Reich für Israel wieder her?“, so fragen die Apostel den auferstanden Herrn. Aber sie missverstehen mit dieser Frage alles, was er ihnen gesagt hatte. Seine Antwort bleibt für alle Zeiten gültig: „Euch steht es nicht zu, Zeiten und Fristen zu erfahren, die der Vater in seiner Macht festgesetzt hat. Aber ihr werdet Kraft empfangen, wenn der Heilige Geist auf euch herabkommen wird“.
Es gibt kein christliches Imperium! Es gibt auch keine russische christliche Welt, in deren Grenzen und Fristen sich jemand mit Gottes Willen aufzuhalten hätte! Dafür taugen die Zeiten und Fristen dieser Weltzeit nicht: das christliche Projekt, das Gott selbst im Sinn hat, übersteigt die irdische Staatlichkeit.
Deshalb treten die Kirchen in Europa heute strikt ein für die Trennung von Staat und Kirche, aber für eine Freundlichkeit des Staates für die Religionen und Weltanschauungen gegen die geistliche Sinnlosigkeit und die Leere, die sonst drohen.
Zu allen Zeiten aber wird es die Kraft des Heiligen Geistes sein, die die Menschen und ihr Leben mit Sinn und Ziel und Menschlichkeit erfüllt. Von ihm kommen die Werte, für die es sich zu kämpfen lohnt!
Jesus, der Auferstandene, der das versprochen hat, steht für die Wahrhaftigkeit dieses Glaubens ein mit seiner eigenen Person. Und damit ist Jesus Christus der einzige Mensch dieser Erde, der ohne je zu enttäuschen und je zum Diktator zu werden von sich selbst sagen kann: „So steht es geschrieben: Der Christus wird leiden und am dritten Tag von den Toten auferstehen und in seinem Namen wird man allen Völkern Umkehr verkünden, damit ihre Sünden vergeben werden“.
Wer diesem Wort Glauben schenkt, wer diesen Namen, Jesus Christus, in sein Herz nimmt und ihm vertraut, lernt, dass es in dieser Welt kein letztes Wort eines Menschen geben kann, das stärker und endgültiger wäre als Christus.
Damit steht das Evangelium immer gegen jede Diktatur! Der Beweis dafür ist nicht, dass die Kirche selbst das im Laufe ihrer Geschichte stets beherzigt hätte. Nein, zigfach hat sie selbst es verfehlt und verraten. Doch trotzdem fanden Menschen aus dem Evangelium die Kraft, genau das zu kritisieren, dagegen zu kämpfen und es zu überwinden. Wer an Christus glaubt, gewinnt eine unbesiegbare Hoffnung gegen die Diktatur und den Sinnverlust. Das schönste Wort des Evangeliums in diesem Zusammenhang ist dann: Es gibt Umkehr, Neuanfang, Vergebung, eine Chance und Berechtigung, sich zu versöhnen und den aufrechten Gang neu miteinander einzuüben. Ja sogar das, was den Tod bringt, und alle, die den Tod erleiden mussten wegen der Anmaßung und der Diktatur der anderen, geraten unter den Schirm dieser Hoffnung: Niemand muss für immer verloren sein. Das ist die Hoffnung, die von Jesus ausgeht, der gekreuzigt wurde für alle und den Gott auferweckt hat als Anfang des Neuwerdens für alle.
Liebe Preisträgerinnen, der Karlspreis, den Sie heute empfangen, zielt vor dem Hintergrund dieser christlichen Tradition auf das Starkwerden des Herzens, auf die Entschiedenheit der Faust für den Kampf und auf das hoffnungsvolle Viktory-Zeichen der Hand. Diese drei Symbole in der Gestaltung durch eine belarussische Künstlerin begleiten hier in unserer Stadt Aachen die diesjährige Karlspreisverleihung.
Damit verbinden wir alle aber heute nicht nur gute Wünsche für Sie und Ihr Volk, sondern diese drei Symbole fordern uns alle in Europa heraus, Sie und Ihr Volk und das Volk der Ukraine zu unterstützen in ihrem Kampf: mit Gewissheit im Herzen, mit Ausdauer für das, was es uns kostet, und mit Hoffnung auf das glückliche Ziel.
Denn Europa steht eben nicht für Eroberung und Sieg über andere, sondern für das Wohlwollen für andere!
Ich schließe mit dem Wort des Apostels Paulus vom heutigen Festtag: „Der Gott Jesu Christi unseres Herrn […] erleuchte die Augen eures Herzens, damit ihr versteht, zu welcher Hoffnung ihr durch ihn berufen seid“. Amen.