Predigt von Bischof Dr. Helmut Dieser an Allerheiligen,
Montag, 1. November 2021, in der Hohen Domkirche in Aachen
L1: Offb 7, 2-4.9-14; L2: 1 Joh 3, 1-3; Ev: Mt 5, 1-12a.
Es gilt das gesprochene Wort
Liebe Schwestern und Brüder,
neulich bekam ich eine Zuschrift von einer Agentur. Die hat sich darauf spezialisiert, neu und anders über Glaube und Kirche zu berichten. Beklagt wird darin, dass nun schon seit einigen Jahren in Deutschland immer nur über Probleme, Probleme und noch mal Probleme der Kirche berichtet werde.
Wörtlich ist in dem Anschreiben an mich zu lesen: Das „Fundament der Kirche im Gebet, in der Verkündigung, bei der Nächstenliebe und der Gemeinschaftsstiftung ist stark – es wird nur nicht mehr stark erzählt. […] Wir müssen das Gebet wieder sichtbarer machen. Wir müssen den Glauben attraktiver verkünden. Wir müssen zeigen, wie sehr wir den Dienst am Nächsten leisten. Wir müssen eine attraktive Gemeinschaft sein“.
Mich haben diese Zeilen in zweifacher Weise angesprochen, ja – aber:
Auch dazu bekomme ich immerfort persönliche Zuschriften.
Menschen schreiben mir, wie sehr sie von der Kirche enttäuscht oder gar verletzt worden sind, neulich eine Frau, die erzählt: Ich wollte mich auf eine kirchliche Stelle bewerben. Doch dann wurde mir gesagt. Sie sind nicht verheiratet und haben ein Kind. Sie können die Stelle nicht bekommen. Diese tiefe Kränkung liegt bei der Schreiberin schon Jahrzehnte zurück. Doch bis heute vergiftet und quält das diese Frau nicht weniger als damals. Jetzt endlich, sagt sie, habe sie es geschafft auszutreten: Und dann die letzte Spitze: Meine alten Eltern haben mir dazu gratuliert!
Menschen, die mir so schreiben, glauben nicht mehr daran, dass da noch etwas besser werden kann. Sie gehen weg aus Enttäuschung, aus verdorbener Liebe, aus dem bitteren Gefühl, schon viel zu lange im falschen Verein, in der verkehrten Institution zu sein, die keine Berechtigung auf Unterstützung und Loyalität mehr hat.
Viele gehen auch mit dem Gefühl, mit diesem Schritt endlich erwachsen zu werden.
Wenn ich versuche, auf solche Briefe persönlich zu antworten, stelle ich manchmal auch die Frage: Wohin denn treten Sie aus? Wo ist es denn besser? Wo gibt es ein menschliches Miteinander, das in idealen Bahnen verläuft und nicht enttäuscht, das fehlerfrei ist und ohne Betrug und Gewalt gelingt?
Ich weiß, dass das noch kein ausreichendes Argument dafür ist, in der Kirche zu sein und zu bleiben. Dazu braucht es mehr, nämlich genau das, was diese Agentur mir geschrieben hat: Wir müssen stark erzählen können von den Wundern des Gebetes, vom Schatz des Glaubens, vom Dienst der Nächstenliebe und von der Kraft der Gemeinschaftsstiftung, die allesamt in der Kirche wirken, ungebrochen, seit 2000 Jahren, seit es sie gibt, trotz aller Missstände, aller Mängel, Skandale und Verbrechen.
Stark erzählen können. Wer kann das? Können wir es?
Was macht das denn aus, dieses starke Erzählen?
Unser heutiges Fest macht uns den Blick dafür weit auf, unüberschaubar weit: Ich sah „eine große Schar aus allen Nationen und Stämmen, Völkern und Sprachen; niemand konnte sie zählen. […] Sie riefen mit lauter Stimme und sprachen: Die Rettung kommt von unserem Gott, der auf dem Thron sitzt, und von dem Lamm.“
Stärkeres als diesen Ausblick, Schwestern und Brüder, gibt es nicht in der gesamtem Menschheits- und Geistesgeschichte. Alle Ethnien, alle Hautfarben, sämtliche Gemeinschaftsgefüge der gesamten Menschheit, seit sie existiert, geraten in den Blick. Keiner wird ausgeschlossen wegen etwas, das zu seinem Leben, zu seiner Identität gehört oder noch skandalös an ihm haftet. Keiner wird zurückgewiesen, weil er oder sie nicht passt. Aber alle haben eine gemeinsame Plausibilität, die sie stark gemacht hat und für immer stark sein lässt, stärker als alles: die Rettung von unserem Gott, der auf dem Thron sitzt, und von dem Lamm.
Es sind die Heiligen, Schwestern und Brüder, die stark erzählen von der Kraft, die von Gott her und durch das Lamm, Jesus, in ihrem Leben gewirkt hat. Weil Gott in ihrem Leben stark war, konnten sie umkehren, immer wieder neu anfangen, sich selbst ertragen, verzeihen, nicht Böses mit Bösem vergelten. Das Lamm, das alles gegeben hat, sich selbst am Kreuz, hat auch sie zu dem vollendeten Menschsein geführt und sie zu Heiligen werden lassen.
Darum erzählt ihr gelebtes Leben ohne Ende von der Freude an Gott, und von der Schönheit geliebt zu sein und zu lieben.
Es kann sehr spannend sein, sich mit den Biographien von Heiligen zu beschäftigen: Was hat sie stark gemacht? Die einen haben fast Übermenschliches geleistet und sich alles abverlangt für ihr Lebenswerk, zum Beispiel im Dienst an Kranken und Schwachen. Denken wir an die drei Patroninnen unseres Heute-bei-dir-Prozesses, die seligen Aachener Frauen Franziska, Pauline und Clara, die zu Gründerinnen wurden, deren Schwestern bis heute segensreich unter uns wirken!
Die anderen haben still und zurückgezogen ihr Leben dem Gebet, der Betrachtung, dem Austausch mit Gott geweiht und dabei immer begriffen: Das ist nicht für mich, sondern für die anderen! Oft wurden sie, ohne sich je aufgedrängt zu haben, zu Ratgebern und Prophetinnen, zu Tröstern und Helferinnen in der Not.
Wieder andere haben unsägliche Leiden, Ungerechtigkeiten und Zurückweisungen, manche sogar in und von der Kirche erlitten, ohne zu verzweifeln und zu verbiestern. Erst nach ihrem Tod ging ihre Saat auf, die mit bitteren Tränen gesät worden war. Darauf aber hatten sie immer gehofft und Gott vertraut.
Und schließlich all die Unzähligen seit den ersten Generationen der Christenheit bis heute, die ihre Angst vor dem Tod und vor den Schmerzen, die man ihnen antun kann, überwanden, die verfolgt und gequält wurden und doch Jesus und ihr Zeugnis für ihn nie aufgegeben haben, sondern für ihn und mit ihm gewaltsam starben. Die Märtyrinnen und Märtyrer sind die ersten, die in der Kirche als Heilige und damit als Helferinnen und Fürsprecher verehrt wurden.
Alle haben sie diese Plausibilität des Glaubens: Sie haben nicht auf sich selbst gesetzt, sondern auf die Kraft Gottes, auf die Liebe des Lammes, das für sie gestorben ist, Jesus. Sie waren Beterinnen und Beter, sie haben den Glauben der Kirche für ihr Leben als verlässliche Richtschnur genommen, sie haben aus der Kraft der Sakramente geschöpft, sie haben den Dienst am Nächsten gelebt und sie haben Gemeinschaft gestiftet, sich selbst immer als Teil einer Gemeinschaft verstanden, in der Gott am Werk ist.
Und diese Gemeinschft beginnt schon hier, in diesem Leben, aber sie erfüllt sich erst in der vollendeten Stadt Gottes, auf die wir zuleben in allem, was geschieht. Selig nennt Jesus im Evangelium alle die, die diese Vorläufigkeit ertragen lernen, die aus der Plausibilität des Himmelreiches schon heute schöpfen und leben und sie anwenden können, selbst dann noch, wenn ihnen dafür Gewalt angetan wird: „Freut euch und jubelt: Denn euer Lohn wird groß sein im Himmel“.
Welche Plausibilität, Schwestern und Brüder, haben wir heute, um stark erzählen zu können?
Auch wir müssen dafür aus dem Vollen schöpfen! Ein „Evangelium light“, eine Auswahl, die mir genügt, genügt nicht!
Denn dem Lamm nachfolgen zu können auch in der großen Bedrängnis, wie es in der Lesung heißt, dazu gehört, wachsen zu wollen, noch dazulernen zu können, Jüngerin, Schüler Jesu zu bleiben ein Leben lang.
Ich will zwei Hinweise geben, die uns heute zu starkem Erzählen fähig machen.
Welche Hoffnung setze ich auf Jesus, flößt er mir ein?
Eine Hoffnung, die kein Verfallsdatum kennt?! Die sich nicht schon ganz in diesem Leben, sondern noch viel weiter im kommenden Leben erfüllen wird? Ohne die Hoffnung auf die Auferstehung und den Himmel gibt es kein starkes Christsein! Wer aber darauf persönliche Antworten gewonnen hat, kann stark erzählen.
Immer geht es dabei um das wirkliche Leben: heute, du und ich und wir: Die Rettung auch für uns kommt von Gott und von dem Lamm.
Wer diese Stärke spürt, kann auch an der Kirche leiden, ohne an ihr zu verzweifeln. Nur aus dieser Stärke kommt auch die Kraft zu den Reformen, die unsere Kirche heute braucht.
Wer austritt, fehlt ihr.
Wer in ihr bleibt und kämpft und hofft und stirbt und unter Tränen Neues sät, gehört zu denen, die Jesus selig preist. Amen.