Predigt von Bischof Dr. Helmut Dieser
am Samstag, 2. Oktober 2021, vor der Verleihung des Karlspreises an den Präsidenten von Rumänien Klaus Iohannis
im Hohen Dom zu Aachen
L: Ex, 2, 20-23a, Ev: Mt 18, 1-5.10.
Es gilt das gesprochene Wort!
Sehr geehrter Preisträger, Herr Präsident Iohannis,
sehr geehrte Festgäste aus Nah und Fern,
liebe Schwestern und Brüder im Glauben,
wir kennen alle die Gefühle, die in uns aufsteigen, wenn wir mit dem Auto auf der Straße zielstrebig unterwegs sind.
Am Straßenrand taucht ein Warndreieck auf. Dann steht da ein Wagen mit eingeschaltetem Warnblinker und offener Motorhaube. Eine Panne. Ein Verkehrsteilnehmer ist liegen geblieben, kommt nicht mehr weiter. Was tun? Anhalten? Fragen, was los ist? Hilfe anbieten?
Es würde uns beruhigen, wenn wir sähen, dass schon andere angehalten haben und am Helfen sind. Oder wenn schon ein Einsatzfahrzeug der Polizei oder eines Hilfsdienstes mit Blinklicht sich nähern würde.
Sie, Herr Präsident Iohannis, sind nicht vorbeigefahren, sondern haben angehalten, sind ausgestiegen, haben kräftig angepackt.
Und damit meine ich Ihre Entscheidung im Jahre 2000. Damals haben Sie Ihre Laufbahn als Lehrer am Brukenthal-Gymnasium in Sibiu / Hermannstadt aufgegeben. Der Niedergang Ihrer Heimatstadt war damals so brutal, dass Sie nicht vorbeisehen und vorbeifahren wollten. Sie stiegen aus, begannen eine Laufbahn in der Kommunalpolitik, wurden zum Bürgermeister von Sibiu gewählt, damals schon mit fast 70 % der Stimmen und bei den folgenden 3 Wiederwahlen jeweils mit mehr als 75 %. Im Laufe Ihrer 14jährigen Amtszeit haben Sie die gutwilligen Kräfte Ihrer Heimatstadt gebündelt, und gemeinsam haben Sie Sibiu / Hermannstadt in eine wirtschaftlich aufblühende, kulturell vielfältige, touristisch immer stärker anziehende Stadt verwandelt.
Sie haben das Warndreieck von Werteverfall und Korruption gesehen und persönlich reagiert.
Und nicht anders verlief Ihre Karriere als Präsident Ihres Landes Rumänien. Seit Ihrem Amtsantritt 2014 sind es die europäischen Werte und die Idee Europas, die Sie in Ihrem Land wirksam machen: die Idee von Demokratie, Rechtsstaat und Gewaltenteilung und damit eben einer unabhängigen Justiz. Immer wieder haben Sie Ihren Landsleuten das Warndreieck gezeigt: Wenn diese Werte uns nicht beeindrucken und zum entschlossenen Handeln bringen, dann bleibt unser ganzes Gemeinwesen auf der Strecke liegen, nur wenige werden dann immer reicher, das Gemeinwohl geht verloren, das Land wird ausgebeutet und an wenige Profiteure verscherbelt.
Entschlossen und mit großer Tatkraft haben Sie in Ihrem Land die Menschen gegen die Korruption mobilisiert, die Vetternwirtschaft gebrandmarkt und schließlich ein Referendum über die Justizreform zur Stärkung des Rechtsstaates durchgesetzt und zum Erfolg geführt.
Mit all diesen Leistungen haben Sie Ihr Land entscheidend nach vorne gebracht und die europäischen Werte im Motorraum der rumänischen Politik überzeugend zum Laufen gebracht.
Für diese Verdienste erhalten Sie heute hier in Aachen den Karlspreis, und dafür gebührt Ihnen unser aller Respekt und unsere Dankbarkeit!
Das Warndreieck am Straßenrand, liebe Schwestern und Brüder, ist bei uns allen nicht sehr beliebt. Wir wollen nicht gern anhalten und uns den Ungewissheiten aussetzen, die der andere Mensch mit seiner Panne gerade erlebt. Wir sind froh, nicht selbst dieser andere mit der Panne zu sein. Wir sind froh, wenn schon jemand anders zum Helfen bereit ist.
Ich frage mich, ob nicht auch von einer solchen Atmosphäre in unserem Land zuletzt der Wahlkampf erfasst war.
Es gibt Krisen und Warndreiecke genug: die Lasten der Pandemie, die Fragen des Lebensschutzes am Anfang und am Ende des Lebens, die tiefgreifenden Verschiebungen in der Außenpolitik, die unbeantworteten Fragen nach den weltweiten Migrationsbewegungen, nach nicht integrationsbereiten Milieus in den Ländern Europas, nach der Geltung des Rechtsstaates auch gegenüber Clanideologien.
Und darüber hinaus die feindselige Konkurrenz anderer Staatsmodelle gegen die Idee der Freiheit des Einzelnen und seiner unveräußerlichen Rechte: durch die Herrschaft einer Partei oder einer Wirtschafts- oder einer theokratischen Elite und durch die digitale Überwachung und Sanktionierung jedes Einzelnen.
Unser Wahlkampf war davon gezeichnet, solche Warndreiecke zu umgehen oder zu suggerieren, die je eigene politische Kraft habe oder kriege dies alles schon gut in den Griff, und wir, die Bürgerinnen und Bürger, könnten getrost noch lange so weiter fahren wie bisher.
Woher kann unseren Politikerinnen und Politikern der Mut kommen, die Probleme beim Namen zu nennen und sie uns zuzumuten?
Lassen wir das zu?
Oder wollen wir in Ruhe gelassen werden?
Sie, Herr Präsident Iohannis, zeigen uns, dass es immer zuerst auf den Mut des Einzelnen ankommt.
In Ihrem Heimatland gibt es ein rumänisches Sprichwort, das lautet übersetzt: „Er hat eine kleine Familie“. Damit ist gemeint: Er arbeitet nicht zuerst für den eigenen Clan, die eigene Partei, er ist nicht korrupt, er ist wirklich er selbst in dem, was er sagt, und in dem, was er tut.
„So spricht Gott, der Herr: Ich werde einen Engel schicken, der dir vorausgeht. Er soll dich auf dem Weg schützen und dich an den Ort bringen, den ich bestimmt habe. […] Wenn du auf seine Stimme hörst, und alles tust, was ich sage, dann werde ich der Feind deiner Feinde sein und alle in die Enge treiben, die dich bedrängen. Mein Engel wird dir vorausgehen“.
Diese Worte aus der Heiligen Schrift mahnen genau das an: Hören, Reden, Tun müssen einander vollkommen entsprechen.
Doch das geht nur, wenn der Mensch, wenn ein ganzes Volk lernt, noch eine tiefere Stimme zu hören, zu achten und zu befolgen: die innere Stimme des Gewissens, das Angebot der Gebote Gottes, die Idee, dass er aus unserem Leben einen geraden Weg machen kann, er selbst uns beschützt und führt.
Ja, sogar ein eigener Engel steht bereit für jeden Menschen, für jedes Volk, um die Nähe und die Schutzmacht Gottes wirksam zu machen.
Liebe Schwestern und Brüder, die unaufgebbaren Werte Europas gehen im Kern auf diese Idee des Einzelnen und auf dieses Menschenbild der Heiligen Schrift zurück und gehen mit ihm konform.
Noch deutlicher hören wir das aus dem Mund Jesu selbst: „Hütet euch davor, einen von diesen Kleinen zu verachten. Denn ich sage euch: Ihre Engel im Himmel sehen stets das Angesicht meines himmlischen Vaters“.
Die unantastbare Würde, das unverlierbare Ansehen, die unveräußerlichen Menschenrechte jeder menschlichen Person von der Zeugung bis zum natürlichen Tod sind darin begründet und gesichert: Sie sind unmittelbar zu Gott, ihr Schutzengel, Gottes Wille und Wissen um jeden Menschen, sind von und in Gott verankert und gewollt.
Wer das glaubt, hat einen mächtigen Antrieb, ja sogar selbst einen Schutzengel, um den Gefahren der Zeit zu begegnen und die Ängste und Bequemlichkeiten zu überwinden und sich einzusetzen für die, die Jesus die Kleinen nennt.
„Wer ist im Himmelreich der Größte“, fragen ihn seine Jünger. Wer verdient vor Gott den Karlspreis oder sonst eine Trophäe?, könnte man unserem heutigen Anlass gemäß formulieren.
Jesu Antwort gibt uns allen viel zu lernen auf: Wer umkehrt und wie ein Kind wird. Also, wer Vertrauen hat und Vertrauen sucht, wer nicht lügt und das Böse nicht zustimmend in sein Denken, Reden und Handeln einbaut. Wer es vermag, nur ein Kind, auch nur ein Einzelschicksal, so ernst zu nehmen wie das eigene und es um meinetwillen bei sich aufnimmt: Der ist im Himmelreich der größte.
Viele Warndreiecke, liebe Schwestern und Brüder, stehen am Rand unserer Lebensbahn. Wer Jesu Worten Glauben schenkt, kann und muss nicht alle Probleme dieser Welt lösen. Aber wir lernen, uns von Gott führen zu lassen, dem Schutzengel zu vertrauen. Wir gewinnen Mut, anzuhalten bei dem, der uns wirklich braucht, und beginnen, uns für ein anderes Schicksal einzusetzen.
Einer wird darüber zum Bürgermeister seiner Heimatstadt und zum Präsidenten seines Landes und bekommt heute den Karlspreis.
Andere bleiben eher unauffällig und sind doch dabei, Vielen um sich herum weiterzuhelfen.
Bei der Gründung Europas nach der Nazi-Barbarei und den Verwüstungen des Zweiten Weltkrieges waren es solche glaubende Männer und Frauen, die dem Anruf Gottes folgten und ein Gemeinwesen schufen, das allen zugute kommt.
Sie, Herr Präsident Iohannis, gehören nun ebenfalls zu diesen großen Namen.
Wir alle, Schwestern und Brüder, überwinden durch den Glauben an Gott unsere Ängste und bekommen den Mut, die Warndreiecke ernst zu nehmen, die heute dringend beachtet werden müssen.
Beten wir darum stets auch für die, die uns in Deutschland und in Europa künftig regieren! Dass Gottes Engel sie führe und sie in all ihren großen Verantwortungen lernen, auf seine Stimme zu hören.
Amen.