„Viele Empfehlungen sind umgesetzt“

Mary Phan-Friedrich (c) privat
Mary Phan-Friedrich
Datum:
Mi. 15. Juni 2022
Von:
Stabsstelle Kommunikation

„Der Schutz der Betroffenen hat Vorrang vor den Interessen der Organisation“, lautete der Auftrag, den Helmut Keymer als erster Interventionsbeauftragter im Bistum Aachen im April 2020 übernommen hatte. In diesen Tagen geht der 66-Jährige in den Ruhestand. Sein Amt hat er an Mary Phan-Friedrich übergeben. Im Gespräch blicken beide auf bereits erreichte Meilensteine, Grenzerfahrungen und wie sich der Erfolg von Intervention und Prävention künftig messen lassen muss.

Herr Keymer, zwei Jahre-Missbrauchs-Aufarbeitung, unzählige Gespräche mit Betroffenen und Einblick in unendliches Leid. Wie oft sind Sie an Ihre Grenzen gestoßen?

Keymer: Nachdem das Bistum im November 2020 das Gutachten veröffentlich hatte, haben rund 140 Menschen angerufen. Davon 45 Betroffene. Da die neuen Ansprechpersonen erst im Februar 2021 starten konnten, habe ich mit vielen gesprochen. Die Vielzahl und Intensität der Gespräche waren kaum erträglich, zumal jeder Fall anders ist. Und über allem schwebt immer die Frage: Wie gehe ich angemessen mit den Betroffenen um? Was brauchen sie? 

Hätten Sie ein solches Maß an Leid erwartet?

Keymer: Alle Geschichten waren schlimm. Doch insbesondere die Geschichten der Heimkinder waren erschütternd. Da ging es nicht nur um sexualisierte Gewalt, sondern Gewalt überhaupt. In brutaler, sadistischer Weise. Umso berührender ist es zu erleben, dass viele Betroffene so resilient sind, dass sie sich von dem erlebten Unrecht nicht kaputtmachen lassen, sondern jetzt erst recht kämpfen. „Du machst mich nicht kaputt!“, so ein Betroffener. Aber es gibt auch viele, die sich nicht aus ihrer Opferrolle befreien können. Das ist tragisch.

Frau Phan-Friedrich, was belastet Betroffene am stärksten? 

Phan-Friedrich: Die Probleme sind sehr vielschichtig. Es gibt nicht die eine Belastung. Aus den Gesprächen mit unseren Ansprechpersonen weiß ich, dass es für Betroffene unterschiedliche Trigger gibt. Das kann ein Medienbericht sein, eine bestimmte Situation, die verdrängte, vergessene Erinnerungen plötzlich wieder zurückkommen lassen. Die größte Hürde ist es, das Gefühl zuzulassen und über den eigenen Missbrauch sprechen zu können. Darüber vergehen oft Jahre, wenn nicht Jahrzehnte. Und dann braucht man einen Raum, wo all das erlebte besprechbar wird und dann braucht man jemanden, der einem glaubt. Deshalb ist es auch so wichtig, dass die Anerkennung des Leids erfolgt - aktuell überwiegend in Form einer Geld-Zahlung. Auch wenn sich damit für viele keine Erlösung einstellt.

Keymer: Manche Betroffene verwechseln die Anerkennung des Leids mit einer Entschädigung. Eine zerstörte Lebenszeit kann man nicht entschädigen. Es ist und bleibt ein Unrecht. Es gibt aber eine große Sehnsucht, endlich einen Punkt machen zu können. 

Wie weit ist das Bistum Aachen mit der Aufarbeitung inzwischen gekommen? 

Keymer: Viele Empfehlungen, die es mit dem Gutachten gegeben hat, sind umgesetzt. Die Ansprechpersonen sind aktiv, der Betroffenenrat etabliert, die Aufarbeitungskommission steht in den Startlöchern. Und der Beraterstab, in dem Psychologen, Mediziner und Juristen sitzen, hat eine erste Runde mit dem Bischof hinter sich. 

Was folgt jetzt? 

Phan-Friedrich: Die Intervention koordiniert und unterstützt die unabhängige Aufarbeitungskommission sowie die Beteiligung von Betroffenen. Die jeweiligen Schnittstellen müssen jetzt gemeinsam entwickelt und definiert werden. Wir müssen in der nächsten Phase einen verbindlichen Maßnahmenplan aufsetzen und umsetzen. Der Erfolg von Intervention und Prävention muss messbar werden. Es gilt jetzt, Strukturen zu legen und Parameter zu entwickeln, die für die gesamte Organisation gelten. Eine verbindliche Dokumentation, Transparenz, Qualitätskontrolle und Erfolgsmessung gehören zwangsläufig zusammen. Unter dem Dach der PIA müssen Intervention und Prävention noch enger miteinander verknüpft werden, um neu gewonnene Erkenntnisse aus Aufarbeitung und Fallmanagement in die Prävention zu integrieren. Intervention und Prävention muss Kulturbestandteil der Kirche im Bistum Aachen werden.

„Wir haben jederzeit alle notwendige Unterstützung bekommen“

Wieviel Rückendeckung und zugleich Unabhängigkeit braucht eine Intervention von Bischof und Generalvikar?

Keymer: Von beiden habe ich jederzeit alle notwendige Unterstützung bekommen, auch wenn wir nicht immer einer Meinung waren. Der Interventionsbeauftragte hat schriftlich die Befugnis, alle Informationen aus dem System zu bekommen und er kann Kolleginnen und Kollegen Hinweise und Anweisungen geben. Man darf nicht vergessen: Unabhängigkeit ist immer auch eine Frage der inneren Freiheit und eigenen Haltung, gegen Widerstände anzugehen. Zwei Jahre vor dem Ruhestand ist das möglicherweise einfacher.

Phan-Friedrich: Aus meiner Sicht braucht und hat die Intervention die notwendige Rückendeckung sowohl des Bischofs als auch das Generalvikars. Die Durchsetzungsfähigkeit muss die Interventionsbeauftragte als Softskill und Know--How selbst mitbringen, um die gesetzten Ziele zu erreichen. Das gilt meines Erachtens nach sowohl für die Interventionsbeauftragte als auch für Manager oder andere Entscheidungsträger. Was ich hier bei uns im Bistum zum Teil noch beobachte, aber auch in anderen Unternehmen immer noch vorherrscht, ist, dass Prävention und Intervention wie übrigens auch das Thema Gender Diversity parallel zur Struktur stattfindet. Die größte Herausforderung sehe ich also nicht darin, mit möglichen Widerstände umzugehen, sondern dafür zu sorgen, dass Intervention und Prävention in der Mitte der Organisation ankommen.

Prävention und Intervention ist ein Führungsthema

Also muss das Thema künftig noch stärker in der Führungskultur verankert werden? 

Phan-Friedrich: Ganz klar. Und Führung beginnt nicht nur an der Spitze, sondern muss überall verortet sein. Der Widerstand gegen Sexualisierte Gewalt sollte bei jedem mit dem Denken beginnen. Wenn wir diese Verantwortung nur an der Spitze sehen, machen wir es uns alle zu einfach. Jeder trägt Verantwortung.

Was bedeutet dies für die Zukunft?

Keymer: Mit den etablierten Gremien wie Betroffenenrat, Aufarbeitungskommission und Beraterstab wird sich der Blick von außen auf die Ergebnisse automatisch weiten. In den Gremien sind selbstbewusste, kluge und profilierte Frauen und Männer engagiert, die wie eine Art Aufsichtsrat wirken werden. 

Phan-Friedrich: Auf diese Weise wird die überparteiliche Rolle der Intervention gestärkt. Um aufklären zu können, muss jeder an den Tisch. Und dann braucht die Intervention das unabhängige Weisungsrecht - insbesondere für die Aufklärung und das Fallmanagement

Ein wichtiger Aspekt ist, dass strukturiert und transparent mit Blick auf die Betroffenen und die Beschuldigten nach gesetzlichen Verfahren vorgegangen wird. Damit wird Vertuschung verhindert. Ich sehe die Interventionsbeauftragte in der Pflicht, die rechtlichen Vorgaben der Interventionsordnung des Bistums durchzusetzen.

Staatsanwaltliche Ermittlungen haben stets Vorrang

Was passiert, wenn sich ein Betroffener meldet? 

Phan-Friedrich: Der Betroffene hat grundsätzlich unterschiedliche und möglichst niederschwellige Zugangswege, um seine Anzeige/Meldung -- auch anonym vorzunehmen. Im Rahmen der Interventionsordnung hat das Bistum Aachen qualifizierte, unabhängige Ansprechpersonen benannt, die als Teil des Hinweisgebersystems die Meldung aufnehmen und gleichzeitig als Lotse den Betroffenen im Verfahren unterstützend zur Seite stehen. Sie unterstützen ihn auf Wunsch auch beim Antrag auf Anerkennung des Leids. Die Meldungen werden an die Intervention weitergeleitet und die Beschuldigten benannt. Bei lebenden Beschuldigten wird sofort die Staatsanwaltschaft eingeschaltet. Bei Verstorbenen arbeitet die Intervention das Thema auf. Grundsätzlich gilt: Staatsanwaltschaftliche Ermittlungen haben Vorrang. Ist ein Urteil gesprochen, leitet die Interventionsbeauftragte das kirchenrechtliche Verfahren ein.

Sind Verfehlungen immer klar abzugrenzen?

Keymer: Jenseits dieser juristischen Verfahren gibt es auch Verhaltensweisen von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die nicht in Ordnung sind. Die sind vielleicht nicht justiziabel, aber sie sind trotzdem nicht akzeptabel und müssen konfrontiert werden.

Phan-Friedrich: Und umgekehrt wächst eine übergroße Sensibilität, dass sich Mitarbeitende unsicher fühlen, ob sie Kinder überhaupt trösten dürfen. Unsere Aufgabe ist, mit Fingerspitzengefühl an die Sache heranzugehen, aufzuklären, aber auch Menschen handlungsfähig und stark zu machen. Gleichzeitig gilt, auch die Rechte der Beschuldigten zu wahren, solange es keine Verurteilung gibt. 

Welche systemischen Ursachen machen Sie für Missbrauch in der Kirche aus? 

Keymer: Dass sich Priester selbst auf den Sockel stellen, ist Klerikalismus. Wenn die Gläubigen das tun, Co-Klerikalismus. Heute erleben wir die absolute Gegenbewegung. Priester sehen sich genereller Verdachtsmomente ausgesetzt. Die Statistik geht von 4 Prozent der Priester aus, die sich missbräuchlich verhalten haben. 

Phan-Friedrich: Es gibt das sogenannte Kittel-Phänomen. Das heißt, wenn ein Arzt einen weißen Kittel anhat, hat er ein ganz anderes Standing. Missbrauch gibt es in der Medizin, in der Pflege, im Sport, überall und meist im nahen Sozialraum. Ich bin der Meinung, man muss mehr die systemischen und allgemeinen Ursachen betrachten und nicht alles auf den Klerikalismus reduzieren. Das soll nichts von dem relativieren, was passiert ist.

Keymer: Es findet eine Entzauberung der Autoritäten statt. Missbrauch ist Biographie und Gemeinschaft zerstörend. Und Gemeinschaften, Kirchengemeinden, Verbände und andere Institutionen machen schnell zu, weil sie genau wissen, dass das Thema bedrohlich ist. Wir geben jetzt Informationen über Beschuldigte in die Kirchengemeinden. Da bin ich auch sehr gespannt, welche Wirkungen ausgelöst werden. 

Mit anderen Worten. Es gab viele Mitwisser.

Keymer: Eine bittere Erkenntnis bei unseren Nachforschungen zu beschuldigten und verstorbenen Priestern ist schon, dass es bereits zu Lebzeiten derjenigen viele Mutmaßungen, Gerüchte und auch Zeugen vor Ort gegeben hat. Und dennoch berichten ganz viele - vor allem ältere Betroffene - dass sie sich damals nicht getraut haben, etwas zu sagen, weil man ihnen ja ohnehin nicht geglaubt hätte.

Haben Sie eigentlich jemals überlegt, aus der Kirche auszutreten?

Keymer: Nein. Ich hatte nie die Vorstellung, dass Priester und kirchliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter automatisch angemessen und transparent mit ihrer Macht umgehen. Für meine spirituelle Entwicklung hatte ich das Glück, Frauen, Männer und Priester erleben zu dürfen, die offen und transparent mit ihrer Vollmacht umgegangen sind. Grenzziehungen und Konflikte sind in Beziehungen normal. Christ kann ich nur mit anderen sein. Mich überzeugt die Botschaft des Evangeliums immer wieder: Ihr sollt das Leben in Fülle haben.

Phan-Friedrich: Ganz im Gegenteil! Für mich war Kirche ein selbstverständlicher Bestandteil meines Lebens. Mit dem Aufkommen der Missbrauchsdebatte wurde die Kirche gefühlt immer stärker in Frage gestellt. Kirche ist plötzlich keine Selbstverständlichkeit mehr. Daher ist es für mich umso wichtiger, mich für den Erhalt der Rolle der Kirche in der Gesellschaft einzusetzen. Und deshalb gehen wir den Weg konsequent weiter. Stärkung des Individuums, Betroffene dabei unterstützen, ihre Selbstwirksamkeit wieder zu spüren und mit einem transparenten Masterplan die Prozesse auf allen Ebenen des Bistums verbindlich zu kontrollieren. Dazu gehört auch der Aufbau einer Führungsaufsicht. 

Das Gespräch führte Marliese Kalthoff