Homosexuelle wurden auch durch die Kirche abgewertet

Bischof Dr. Helmut Dieser (c) Bistum Aachen/Carl Brunn
Bischof Dr. Helmut Dieser
Datum:
So. 23. Jan. 2022
Von:
Stabsabteilung Kommunikation

Bischof Dr. Helmut Dieser spricht im Interview mit Raimund Neuss über den derzeitigen Zustand der katholischen Kirche in Deutschland, den diskriminierenden Umgang mit Homosexuellen und die Chancen einer Pastoral der Ermöglichung.

Benedikt XVI. sollte früheres Verhalten bedauern

Zur Rolle des ehemaligen Papstes Benedikt XVI. beim Umgang mit Fällen sexualisierter Gewalt sagte Dieser: "Jeder, auch ein ehemaliger Papst, wird an einen Punkt kommen, an dem er sagen muss: Ich habe heute eine andere Sicht als damals und bedaure, dass ich damals so gehandelt habe und nicht anders." Er schlug vor, in der Deutschen Bischofskonferenz darüber nachzudenken, "ob wir nicht so weit kommen , dass alle Bistümer in einem bestimmten Zeitfenster diesen Aufarbeitungsprozess grundsätzlich angehen". Hintergrund ist die Tatsache, dass zahlreiche deutsche Bistümer bisher noch keine Studien oder nur Teil-Studien zum Umgang mit sexualisierter Gewalt in Auftrag gegeben haben.

Selbstkritischer Blick auf eigene Fehler zu Beginn des „Heute bei dir“-Prozesses

Selbstkritisch stellt sich Bischof Dieser selbst nach fünf Amtsjahren die Frage, ob er alles noch einmal so machen würde wie in seinen ersten Amtsjahren. So würde er zum Beispiel den Beginn des „Heute bei dir“ – Prozesses heute weniger forsch angehen. Mit Blick auf die Missbrauch-Aufarbeitung müsse die Bischofskonferenz darüber nachdenken, „dass alle Bistümer in einem bestimmten Zeitfenster diesen Aufarbeitungsprozess grundsätzlich angehen. Ich kann nur allen raten, das klug und mutig anzugehen und nicht zu zögern.“

Gutachten des Bistums Aachen

Das Bistum Aachen habe von Anfang an mit der Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl zusammengearbeitet und sei diesen Weg bis zum Ende gegangen. „Wie wir es versprochen hatten, haben wir das Gutachten veröffentlichen lassen, bei dem wir auch selbst nicht wussten, was darin stehen würde. Die sich daraus ergebenen Aufträge arbeiten wir konsequent ab. Aktuell haben sich die Betroffenen getroffen, die aus ihrem Kreis heraus einen eigenen Betroffenenrat bilden sollen.“ Dieser Rat setze sich seine eigene Agenda und könne so mit dem Bistum auf Augenhöhe sprechen. Er wird sich auch selbst konstituieren und eine Satzung geben.

Synodaler Weg: Leben in gelingenden Beziehungen

Sexualität und Intimität seien der Bereich, in dem Menschen am tiefsten verwundbar sind. Das mache auch sexuelle Gewalt so zerstörerisch. „Sexualität ist etwas Kostbares, nichts zum Schämen und Verdrängen. Deshalb sprechen wir von Leben in gelingenden Beziehungen. Es geht um Liebe, es geht um Weitergabe des Lebens – dabei bleiben wir –, es geht aber auch um Identität, um den Kern der Person,“ so Dieser weiter. Es gehe dabei auch um die Erfahrung des absoluten Geliebtseins. Dies könne eine Erfahrung der absoluten Liebe Gottes vermitteln.

Viele Menschen würden aber empfinden, dass sie da wegen ihrer sexuellen Orientierung diskriminiert und ausgegrenzt seien. Die sexuelle Orientierung sei aber eine Gabe Gottes. „Sie ist nicht zu hinterfragen, sondern sie muss in die Nachfolge Gottes geführt werden. Also muss es möglich sein, dass homosexuelle Menschen eine Paarbeziehung führen können in Liebe und Treue.“

Dieser hofft, dass die deutschen Katholiken entsprechende Beschlüsse auf dem Synodalen Weg auch in den weltweiten synodalen Prozess einbringen können, den Papst Franziskus ausgerufen hat. "Wenn wir in Deutschland homosexuelle Partnerschaften segnen, müssen es nicht alle anderen auch so machen, aber wir hoffen auf Anerkennung, dass unser Weg katholisch ist", sagte er.

Dadurch würde auch, eine Grundlage geschaffen, damit Segnungen von Homosexuellen im Bistum Aachen für möglich erklärt werden können.

Zu Warnungen vor Spaltungstendenzen, wie sie unter anderem der Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki ausgesprochen hatte, sagte Dieser der Kölnischen Rundschau: "Das Wort wird am liebsten von denjenigen verwendet, die etwas verhindern oder aber unbedingt durchsetzen wollen und nicht bereit sind, mit der Mehrheit der Bischöfe mitzugehen." Und weiter: "Die Spaltung könnten wir auch bekommen, wenn wir nichts tun. Wenn nichts geschieht, sind wir endgültig weg."

Die Frage nach dem Weihepriestertum und die Rolle der Frau

Es müsse neu begründet werden, warum alle Menschen vor Gott gleich sind und den vollen Zugang zu Christus haben und es trotzdem den besonderen Dienst des Priesters brauche. „Zumal die Frage dazukommt: Warum nur Männer? Die Kirche muss sich dem stellen.

Zur Rolle von Frauen in der Kirche meinte Dieser, wenn es dabei bleibe, dass nur Männer Priester werden können, sei damit nicht die Frage entschieden, wie Partizipation aussehen könne. "Man muss sich dann ja im Einzelnen anschauen, welche Befugnisse zwingend mit dem Priesteramt verbunden sein müssen. Das Amt also sozusagen depotenzieren." Besser sehe es beim Diakonat der Frau aus, denn dies habe es in der Geschichte schon gegeben. "Darauf kommt es in der katholischen Kirche an: Wir führen nichts Neues ein, sondern etwas, nach dem unsere Zeit verlangt, das der Kirche aber nicht fremd ist."

Offenes Reden und Zuhören in der Weltsynode

Es sei noch nicht klar, ob diese Themen in den Prozess der Weltsynode einfließen würden, sagte Dieser. Es könne sein, dass andere Themen in den Vordergrund treten. „Aber ich weiß auch von Stimmen, die sagen, wir schauen da ganz genau auf das, was Ihr in Deutschland macht. Und es ist gut, dass Ihr diese Themen ansprecht.“ Dies sei ja der Freimut, den der Papst sich wünscht. Es sei nicht möglich, offenes Reden und Zuhören zu fordern und dann sauer über das zu sein, worüber geredet wird.

Kirche muss im Dialog bleiben und darf sich nicht zurückziehen

Es gäbe immer wieder Stimmen, die so tun, als gehe es um Forderungen von außen, mit denen die Kirche unter Druck gesetzt werde. Das stimme aber nicht. Es gehe um den innersten Kern. „Wir pilgern durch die Zeit, und dabei entstehen neue Fragen. Wir stehen immer in einer Auseinandersetzung mit der Gegenwart, und das ist ja das Faszinierende am Glauben: Dieses Nachdenken bricht nie ab. Wir brechen diesen Dialog nie ab und ziehen uns zurück,“ sagte Dieser. Der Dialog helfe, das Evangelium neu auszulegen. Das sei aber keine Gefahr, sondern helfe, Kirche zu sein, „eine pilgernde Kirche, eine Kirche auf dem Weg.“ Die Zusage, dass der Heilige Geist die Kirche führt, gelte auch 2022 noch.

Dabei sei es unerheblich, wie groß die Kirche ist. Kirchen könnten auch in einer Minderheitenposition gesellschaftlich sehr wirksam sein. „Unverändert bin ich davon überzeugt, dass das christliche Menschenbild für große Teile unserer Gesellschaft grundlegend bleibt,“ so Dieser weiter.

Kirchenmitgliedschaft als freie Entscheidung

Die Kirche müsse lernen, dass die Mitgliedschaft auf freier Entscheidung beruhe, sagte Dieser. Das könnten nicht die Eltern für die Kinder regeln. Es müsse graduelle Formen der Mitgliedschaft geben. „Das ist alles nicht einfach: Sollen wir Kinder taufen oder sie erst nur segnen, wenn die Eltern dies wünschen? Wichtig ist: Wir dürfen niemanden vereinnahmen.“

Strukturveränderungen als Chance einer Pastoral der Ermöglichung

Strukturveränderungen und Gemeindefusionen bedeuten für verschiedene Generationen Unterschiedliches. Für Ältere sei die alte Gemeinde die Heimat. „Die Kirche wird sich ausdifferenzieren. Es wird nicht mehr alles überall geben, sondern unterschiedliche Formen des Kircheseins an unterschiedlichen Orten. Wichtig ist, dass überall das Katholische erkennbar ist und dass die Angebote vernetzt sind,“ sagte Dieser. So könne jemand, der etwas Bestimmtes sucht, erfahren, wo er es findet. Das Modell, Gemeinden nur immer weiter zu vergrößern, stoße an Grenzen. „In so großen Räumen können wir nicht mehr Pfarrei im alten Sinne sein.“ Das bedeute auch, dass es einen neuen pastoralen Ansatz geben müsse: eine Pastoral der Ermöglichung. Es würde aber, zum Beispiel, nicht überall Erstkommunionfeiern geben. „ Dafür gibt es woanders andere Angebote. Es ist die Kraft der Gläubigen, die das aufbauen wollen. Das können wir als Bistum nicht zentral garantieren.“ Das bedeute auch, Laien nach und nach mehr Kompetenzen in der Gemeindeleitung zu geben.

Kritik an Ampel-Vertrag - Abtreibung ist "Tötung eines Menschen"

Dieser wandte sich entschieden gegen Überlegungen zu Sterbehilfe und Abtreibung im Ampel-Koalitionsvertrag. Die Kirchen verträten "humane Werte, die niemand missen möchte", betonte er: "Bleibt das menschliche Leben unantastbar? Oder geraten wir alle irgendwann in die Situation, in der man alte Menschen unter Druck setzt, es wäre besser, wenn sie jetzt gehen? Wenn wir gewerbliche Suizidbeihilfe zulassen, ist so eine Situation schneller da als wir denken." Und wer von Abtreibung oder Schwangerschaftsabbruch spreche, verharmlose, dass es hier um die Tötung eines Menschen geht. Bei dem Themen gebe es "Sprachverbote" und "Stimmen, die uns weismachen wollen, das Kippen des bisherigen Rechts sei im Sinne des Humanums". Dieser: "Da will man uns ein X für ein U vormachen, und hier müssen die Kirchen prophetisch sein."