„Aufarbeitung ist ein Recht der Betroffenen und das muss man verinnerlichen.“

Bischof Dr. Helmut Dieser (c) Bistum Aachen / Andreas Steindl
Bischof Dr. Helmut Dieser
Datum:
Do. 25. Mai 2023
Von:
Stabsabteilung Kommunikation

Bischof Dr. Helmut Dieser, Generalvikar Dr. Andreas Frick, die Interventionsbeauftragte des Bistums Aachen, Mechtild Bölting, der Leiter der Fachstelle Prävention – Intervention – Ansprechpersonen (PIA), Christoph Urban, und die Leiterin der Stabsabteilung Kommunikation, Marliese Kalthoff, informierten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im pastoralen und allgemeinen Bistumsdienst Anfang Mai digital über den aktuellen Stand der Aufarbeitung. Lesen Sie hier Auszüge aus der Runde. 

Herr Bischof, Sie sind eines der profiliertesten Gesichter der Aufarbeitung sexualisierter Gewalt, nicht nur hier im Bistum Aachen, sondern inzwischen auch überdiözesan und es ist spürbar, dass sie dieses Thema mit Nachdruck verfolgen. Vor allen Dingen, wenn es um den Blick auf die Betroffenen und ihre Bedürfnisse geht. Wo steht das Bistum Aachen heute?

Bischof Dr. Helmut Dieser: Nicht mehr am Anfang, wo alles irgendwie ins Laufen kommt, sondern mittlerweile mitten im Fluss. Bisweilen beschleicht einen manchmal das Gefühl, dass wir es kaum schaffen können in der gesamten Komplexität. Das treibt das Tempo, denn die Betroffenen haben ein Recht auf Aufklärung und Aufarbeitung. Dazu gehört auch, dass wir Sicherheit signalisieren und Mut machen, dass Menschen aus dem Dunkelfeld heraustreten. Das geht nur, weil wir einen Kreis von Ansprechpersonen haben, die mit Betroffenen stetig im Kontakt sind und nicht nur einmalig, sondern wiederholt Gespräche führen. Dazu gehört auch die Unterstützung bei der Antragsstellung für die Anerkennung des Leids.

Welche Rolle nehmen die unabhängigen Ansprechpersonen ein?

Bischof Dr. Helmut Dieser: Die Ansprechpersonen arbeiten sehr verantwortlich und professionell mit vielen Betroffenen. Das kann ich deshalb sagen, weil ich mit ihnen im Gespräch bin und darüber hinaus auch mit vielen Betroffenen selbst. Das sind für mich immer sehr wichtige Gespräche, aus denen sich sehr oft die nächsten Bedarfe ergeben. Denn das, was uns mitgeteilt wird, ist oft so weitgreifend, dass wir überlegen müssen, wie wir unserer Verantwortung jederzeit gerecht werden können. Immer mit der Hoffnung verbunden, dass Menschen weiterhin den Mut haben, sich zu melden. Dafür müssen wir uns auch personell gut aufstellen.

Vor gut einem halben Jahr hat sich die Aufarbeitungskommission konstituiert, in der unterschiedliche Expertisen vertreten sind. 

Bischof Dr. Helmut Dieser: Die Aufarbeitungskommission arbeitet unabhängig von uns. Sie, so bekomme ich es mit, wird auch hier und da schon vorstellig, fragt bestimmte Personen und Verantwortlichkeiten an und will Auskunft haben. Das ist manchmal ein bisschen unbequem für die Befragten; sie fühlen sich auf einmal so, als wäre die Kripo bei ihnen an der Tür und wollte gucken, was sie alles so gemacht haben in letzter Zeit. Das muss aber sein. Wir wollen uns ja in dieser Weise anschauen lassen und so zur Aufarbeitung beitragen.

Wie viel Verantwortung liegt in der Aufarbeitung beim Bistum und welche Rolle spielen die Gremien? Denn die Aufarbeitungskommission, der Betroffenenrat und der Ständige Beraterstab, den Sie und der Diözesancaritasrat an Ihrer Seite wissen, haben ja letztendlich auch die Aufgabe zu kontrollieren, zu begleiten und auch zu dokumentieren. Wie erleben Sie die Zusammenarbeit mit den verschiedenen Gremien? 

Bischof Dr. Helmut Dieser: Konstruktiv. Ich glaube, dass wir tatsächlich im Moment eine gute Vertrauenssituation haben. Das gilt auch für die Gremien, die uns kritisch begleiten. Da denke ich auch an den Diözesanrat der Katholik*Innen im Bistum Aachen und an andere Gremien, die zu Recht sagen: Ihr in der Hierarchie tragt die Verantwortung und es wird wichtig sein, dass ihr transparent seid und nicht in „closed shops“ arbeitet, sondern immer wieder auch uns gegenüber Rechenschaft ablegt. Das tun wir.

Sie haben jüngst mit dem Ständigen Beraterstab getagt. Welche Impulse nehmen Sie daraus mit?

Bischof Dr. Helmut Dieser: Auch die Mitglieder des Beraterstabes spüren, dass sie mit ihrer Expertise tatsächlich gebraucht werden und uns handfest unterstützen können. Es geht da nicht um Konjunktive wie ‚man könnte, man müsste, man sollte‘, sondern ich erbitte mir mitunter auch konkreten Rat für ein „Doing“. Die Gremien merken sehr wohl, dass ganz viel zu tun ist. Zuletzt haben wir intensiv darüber beraten, wie eine öffentliche Nennung von Missbrauchstätern erfolgen kann. Dass wir Namen nennen wollen, ist unbestritten. Allerdings müssen wir immer genau den Einzelfall prüfen.

In Bezug auf die öffentliche Nennung von Täter-Namen gab es in den letzten Wochen bisweilen den Vorwurf, das Bistum lasse sich zu lange Zeit damit. Dies galt insbesondere für den Täter Pfarrer M., der als Fall 9 im Missbrauchs-Gutachten vom November 2020 aufgeführt wird. Dieser Pfarrer ist trotz Verbots nach Afrika gereist und hat von dort eine Sammlung indigener Artefakte mitgebracht, die seit 1991 bei Missio Aachen ausgestellt war. 


Dr. Andreas Frick: Es gibt leider eine Wirklichkeit, die ist komplizierter und die braucht eben eine gründliche Fassung. Dieser Mann, um den es geht, war ein offensichtlich kriminell Handelnder. Da gibt es keinen Zweifel. Er ist frühzeitig in den 1960er-Jahren dienstlich aus dem Verkehr gezogen worden, hat sich privat auf den Weg gemacht, ist aber leider kein strafrechtlich Verurteilter. Aufarbeitung ist so wichtig, dass sie nicht aus einem Impuls, einer Laune oder einer Spontanität heraus passiert, sondern aufgrund von Kriterien gut abgewogen sein muss. Deshalb erarbeiten wir eine Systematik. Es geht nicht darum, etwas zu Vertuschen. Der Fall ist lange intern bekannt, auch Missio wusste darum. Und trotzdem ist eben diese Ausstellung noch lange gezeigt worden. Wenn Betroffene von damals nur den Namen des Betreffenden hörten oder bestimmte Artefakte sahen, waren sie re-traumatisiert. Auch das ist eine Wirklichkeit, mit der wir umgehen müssen. Das lerne ich als Nicht- Betroffener von Betroffenen, dass Trigger-Situationen entstehen, die man behutsam anschauen muss. Wenn wir anfangen, Täter in ihren früheren Wirkungsstätten zu nennen als Missbrauchstäter oder hochgradig Missbrauchs-Verdächtige und Menschen ermutigen, aus dem Dunkelfeld zu bekommen, wissen wir auch aus psychologischen Erkenntnissen, dass das etwas auslösen kann. Bei den damaligen Kindern, die heute erwachsen sind, und auch bei Menschen aus deren Umfeld. Das muss aus einer organisatorischen Fürsorge möglichst gut vorgedacht und begleitet werden. Man muss sich darauf einstellen, was in einem Jugendverband, in einem Jugendheim oder in einer Pfarrei passiert. Sorgfalt geht vor Schnelligkeit.

Herr Bischof, Sie haben ja mit ihrem Beraterstab zusammengesessen und genau dieses Spannungsfeld auch mit den verschiedenen Qualifikationen der TeilnehmerInnen diskutiert. Was war so das Spiegelbild zu diesem Thema - Veröffentlichung von Namen und Gründlichkeit vor Geschwindigkeit?

Bischof Dr. Helmut Dieser: Es gibt einen ehernen Grundsatz: Betroffene haben das Recht auf Aufarbeitung ihres Falles. Also auf eine tiefere Beantwortung der Fragen: Wie konnte es damals sein, dass mir an dieser Stelle in diesem Lebensalter dieser Täter mit das antun konnte? Wer wusste damals davon? Wer hätte mir damals beistehen, wer hätte den Täter stoppen müssen? Alle diese Fragen quälen Betroffene sehr tief, und deswegen haben sie ein Recht darauf, plausible Antworten zu hören. Von daher ist Aufbereitung ein Recht der Betroffenen. Das muss man verinnerlichen. Dieses Recht der Betroffenen muss man gegen all die Ansprüche von Persönlichkeitsrechten und Datenschutz der Täter oder der Beschuldigten aufwiegen.

Allein die Ankündigung, dass wir Täter-Namen nennen wollen, nachdem der Beraterstab mir unterstützend grünes Licht gegeben hat, hat viele aufgewühlt. Ein Betroffener hat jetzt schon bei uns gemeldet, der allerdings nicht möchte, dass seine Geschichte öffentlich wird.

Wie behält der Betroffene also die Regie seines Falles? Auch wenn wir weitergehen, wenn wir jetzt Täternamen nennen, dann könnte es ja sein, dass jemand sagt: „Das war doch unser Pfarrer. Du warst doch damals bei dem Messdiener!“ Und dann könnten über Rückschlüsse ganz schnell auch Betroffene die Übersicht oder die Regie über die Mitteilung ihres eigenen Erlebens verlieren. Deswegen ist es hochsensibel, das betroffene Umfeld und die Regie, die die Betroffenen behalten müssen, genau im Blick zu halten. Mir ist an dieser Stelle wichtig, dass wir nicht pauschal Namen in die Welt setzen, sondern den Einzelfall prüfen. Dazu muss dann auch der Betroffenenrat mitreden: Sollen wir diesen Täternamen veröffentlichen, müssen wir vorher noch anderes tun oder tun wir es vielleicht überhaupt nicht?

Es bleibt dabei: die Betroffenen müssen die Regie behalten und ich darf in dem Fall, den wir jetzt vor Augen haben, den wir am liebsten bald veröffentlichen wollen und den auch der Generalvikar genannt hat, sagen, dass es eben dort tatsächlich Betroffene sind, die das Anmelden und sagen: „Ich halte das nicht mehr aus, dass immer noch nicht offen darüber gesprochen werden kann“. Es sind tatsächlich die Betroffenen selbst, die auf diesen Fall hin eine Veröffentlichung wünschen und wir deswegen jetzt auch sagen: ja, wir müssen da weitergehen. Und so muss es in jedem Fall eine Einzelfallprüfung geben.

Frau Bölting, was sind die drängendsten Nöte der Betroffenen und was passiert, wenn Betroffene sich melden?

Mechtild Bölting: Das Drängendste ist, dass die Anträge, Anliegen und Anfragen zeitnah bearbeitet werden können. Dieses Warten darauf: Wann wird mein Anliegen an die UKA geschickt, die für die Anerkennungszahlungen zuständig ist? Was passiert mit meiner Geschichte im Bistum? Dieses Vertrauen aufzubringen, dass damit gut umgegangen wird, wenn man schon einmal von der Kirche als Institution zutiefst verletzt worden ist, das ist schwer auszuhalten. Eben auch dadurch, dass jetzt die Möglichkeit eröffnet worden ist, einen Widerspruch einzureichen. Dann kommt alles wieder hoch und die Betroffen müssen sich damit erneut auseinandersetzen.

Wenn Betroffene sich melden, werden sie an die speziell ausgebildeten Ansprechpersonen verwiesen oder sie melden sich direkt dort. Es folgt ein erstes, unverbindliches Beratungsgespräch, in dem geklärt wird, was die Betroffenen konkret wollen: Wollen sie einen Antrag auf Anerkennung des Leides stellen und welche Konsequenzen hat das? Wenn sie dies wollen, findet ein weiteres Gespräch statt, das dokumentiert wird. Erst dann erfährt die Interventionsstelle davon. Also, es gibt immer noch diesen Zwischenschritt, dass die Betroffenen entscheiden können: Will ich, dass das weiter geht, ins Generalvikariat und dann zur Anzeige gebracht wird? Weil, wenn es gemeldet wird und sobald es in der Interventionsstelle ankommt, müssen wir handeln. Und dann ist eine der ersten Frage immer: Lebt der Beschuldigte noch oder der Täter? Bei einem lebenden Täter wird ein Krisenstab einberufen, weil in diesem Fall die Anzeigepflicht gilt.

Schauen wir noch einmal auf die Veröffentlichung von Täter-Namen. Manche meinen ja, jetzt werden Listen ins Internet gestellt. Entscheidend, so sagen Sie, Herr Urban, ist der Einzelfall. 

Christoph Urban: Ich möchte da ansetzen, was Bischof Dieser eben sagte: Wir müssen von den Betroffenen ausgehen; a) ob sie es wollen und b) abzusprechen, wie sie mitgehen können, um nicht in eine Re-Traumatisierung zu fallen.

Darüber hinaus sind wir aufgrund der Empfehlung des Beraterstabs dabei, Kriterien zu entwickeln, wann eine Veröffentlichung sinnvoll ist und wann nicht. Wie können wir die beiden Waagschalen, nämlich das Persönlichkeitsrecht bzw. -schutz eines möglichen Täters, das teilweise über den Tod hinausgeht und das berechtigte Interesse der Öffentlichkeit nicht gegeneinander ausspielen, sondern eine Bewertung im Interesse der Betroffenen erreichen. Also insofern gilt zu prüfen, was juristisch noch mal sauber zu klären ist, bevor wir einen Täternamen nennen.

Wichtig ist darüber hinaus ein Begleitsystem für betroffene Menschen und Systeme auf die Beine zu stellen, also in den Pfarren, in der Familie, dort, wo dieser Missbrauch bisher ggf. auch noch gar nicht bekannt ist.