VER-ORTUNG

Folge 2 des Blogs "WELTEN - SPRÜNGE. Eifel, Amazonas und zurück" von Friederike Peters

Amazonas-Frachtschiff (c) Friederike Peters
Amazonas-Frachtschiff
Datum:
Mo. 12. Okt. 2020
Von:
Friederike Peters

Ich vergesse, den Ort aufzuschreiben, an dem ich gerade bin.

Das war sonst immer das erste im Tagebuch - der Ort - jeden Tag neu -

Die “Welt” in Deutschland (c) Friederike Peters
Die “Welt” in Deutschland

Jetzt, in der Eifel bin ich schon sechs Monate am selben Ort. In den letzten sechs Jahren in Ecuador war ich nie länger als zwei Wochen an einem Ort, in den letzten drei Jahren nie länger als eine Woche. Das Zelt war mein Ort, mein Igluzelt, gerade groß genug für mich, einen kleinen und einen großen Rucksack. Das Zelt wurde wöchentlich, manchmal täglich in einem anderen Holzhaus, in einem anderen Dorf der Region aufgebaut, je nach Aufgabe, die zwischen Sozialpastoral und Fernschule zu erledigen war. Die großen Entfernungen machten es unmöglich, täglich per Boot in den Hauptort Nuevo Rocafuerte zurückzufahren. Das Unterwegs-Sein war mein Ort.

Als die Bankangestellte, bei der ich ein Konto mit neuer Adresse eröffnen will, mich fragt, wo ich denn vorher gewohnt habe, antworte ich ganz automatisch: "Ich hatte keine feste Wohnung." Als ich mich selbst das laut sagen höre, erschrrecke ich, denn ich weiß, so krieg ich hier kein Konto. Ich ergänze schnell: "Ich habe bei meiner Schwester gewohnt," und nenne deren Adresse, unter der ich in Deutschland zuletzt gemeldet war.

Wer keinen Ort hat, den kann man nicht verorten, nicht zuordnen. Wer keinen Ort hat, die hat nichts, hat nichts und ist nichts - heißt es.

Die Naporuna, Menschen vom Napofluss, bei denen ich Zuhause war, haben ihren Ort, ihre Felder und ihren Teil des Urwaldes, mit Brief und Siegel ihnen zugeschrieben. Und trotzdem müssen sie weg. Immer wieder müssen sie monatelang in die Provinzhauptstadt Coca, wo sie sich als TagelöhnerInnen in die Schlange stellen, um eine Arbeit am Bau, als Hausangestellte, Kellnerin oder Lastenträger zu finden. Wenn alles gut geht, wird die Landwirtschaft am Fluss solange von anderen Verwandten mitversorgt, bis diese dann auch wieder in die Stadt müssen. Bananen, Maniok und Reis dürfen nicht fehlen, sonst kommt der Hunger. Mais ist nötig als Hühnerfutter, Kaffee und Kakao für den Verkauf. Die gelben Aroma-Kakaofrüchte aus Ecuador bringen den teuersten Edelkakao der Welt auf den Markt. Die Menschen vom Napofluss können vom Verkauf des Kakaos nicht leben. Den Verdienst stecken andere ein. Sie müssen immer wieder weg von ihrem Ort, in die Stadt, wo sie nichts sind, das lässt man sie spüren, weil sie nichts haben - sagt man - - -

Seit Jahrhunderten suchen die Menschen Europas ihre U-topie (wörtlich: ohne Ort), die Sehnsucht ohne Ort, den Ort ohne Sehnsucht, das Goldland, von dem man nicht weiß, wo es liegt, das "entdeckt", "erobert", "realisiert" werden muss, wie man meint. Viele wollen bis heute diesen Ort in Amazonien finden, dem angeblichen "Land ohne Menschen für Menschen ohne Land." So sind die Menschen Amazoniens selbst zur U-topie (ohne Ort) gemacht worden. Der Ort ihrer Sehnsucht ist ihr eigener Ort, der ihnen oft nur noch auf dem Papier gehört, den sie erhalten und selbst gestalten wollen, den sie leben wollen, der voll ist mit "Sumak Kawsay" (Mega-Leben), sagen sie, mit "Runa Kawsay": Naporuna-Leben - - -