UNVORHERGESEHENES

Folge 28 des Blogs "WELTEN - SPRÜNGE. Eifel, Amazonas und zurück" von Friederike Peters

Boot unter (c) privat
Boot unter
Datum:
Mo. 12. Apr. 2021
Von:
Friederike Peters

Für das Amazonas-Vikariat schreibe ich einige Projektanträge an deutsche Finanzgeber, damit am Fluss die Arbeit weitergehen kann.

Projektplan (c) Friederike Peters
Projektplan

Wie in den meisten Ländern der Welt gibt es auch in Ecuador keine Kirchensteuer, die die Arbeit der Kirchen finanzieren würde. Die Kollekten der Mitglieder können die Lücke nicht füllen, erst recht nicht im Amazonasgebiet. Wenn keine Finanzierung gefunden werden kann, bleiben viele sozialpastorale Aufgaben einfach stehen wie eine abgelaufene Uhr. Wenn keine Psychologin, keine Sozialarbeiterin, keine Lebensmittel für das kirchennahe Frauenhaus mehr bezahlt werden können, wird es für Monate geschlossen und die jungen Frauen müssen zurück "nach Hause", von wo sie wegen der erfahrenen Gewalt gerade geflohen sind, zu Verwandten, die bereit sind, sie in ihre engen Wohnungen aufzunehmen, oder auf die Straße. Wenn die kirchliche Sozialstiftung keinen Anwalt finanziert bekommt, gibt es eben keinen, der die Menschen vom Napofluss vor den Erdölfirmen und dem Staat vertritt, wenn, wie letztes Jahr geschehen, eine Erdölkatastrophe Fluss und Land überschwemmt.

Nach einigen Wochen bekomme ich meinen Antrag zurückgeschickt mit ein paar ergänzenden Fragen: "Was ist im Finanzierungsplan mit der Rubrik UNVORHERGESEHENES gemeint? Bitte erklären Sie das genauer."

Ich kann mir ein Lachen nicht verkneifen. Wenn ich es genau erklären könnte, wäre es nicht unvorhergesehen. In Ecuador gehört die Rubrik Unvorhergesehenes zum unbedingten MUSS eines jeden Projektes. Wer das nicht einkalkuliert, kennt entweder die Realität nicht, versucht, das Projekt schönzufärben, hat andere Finanzquellen oder wird mitten im Projekt steckenbleiben.

Das Leben am Amazonas lässt sich nicht vorplanen. Plötzlich fällt der Strom aus, das Boot hat ein Leck, der eiskalte Starkregen macht jeden Transport auf dem Napofluss unmöglich oder der Wasserstand im Fluss ist in wenigen Stunden um fünf Meter gefallen. Das öffentliche Personentransportboot mitsamt den Passagieren sitzt dann über Nacht mitten im Fluss auf der Sandbank fest. Das Rettungsboot braucht Benzin und Personal. Die für den Workshop eingekauften Lebensmittel sind in der Verpackung vom Mehlwurm zerfressen. Der Gruppenleiter wurde gestern beim Fischen vom Rochen gestochen, hat sehr große Schmerzen und fällt erst mal aus. Der Computer geht kaputt, weil das Antivirusprogramm in postmodernen Zeiten nur noch per Internet aktualisiert werden kann, das Internet am Fluss aber nur für Erdölfirmen und andere staatliche Stellen zugänglich ist, nicht für die Dorfbewohner. Handschriftliche Dokumente werden schon lange nicht mehr akzeptiert. Unvorhergesehenes ist am Amazonas der Normalzustand, mit Unvorhergesehenem kreativ umzugehen eine wunder-volle Kunst seiner Bewohner, die erst dort ins Leere läuft, wo der Perfektionismus der "westlichen" Zivilisation keine Kreativität mehr zulässt.

Unvorhergesehen hat uns in Deutschland das Coronavirus überrascht - uns eiskalt auf dem falschen Fuß erwischt und bis heute erholen wir uns nicht vom Schreck darüber, dass wir nicht mehr vorhersehen können, was im nächsten Monat passiert - - -