LUCRECIA - EINE MISSBRAUCHSGESCHICHTE

Folge 46 des Blogs "WELTEN - SPRÜNGE. Eifel, Amazonas und zurück" von Friederike Peters

Missbrauch (c) Friederike Peters
Missbrauch
Datum:
Mo. 16. Aug. 2021
Von:
Friederike Peters

Sie warten auf Lucrecia. Nach fünf Jahren will sie wiederkommen - zur Beerdigung ihres Bruders Antoni.

Missbrauch (c) Friederike Peters
Missbrauch

Das weiße Betttuch, das die Leiche auf dem großen Esstisch des Hauses bedeckt, ist voller Blut. Die Mutter des Toten hockt auf der Erde mit dem Rücken zum Tisch wie ein totes Stück Baumstamm. Als ich zu ihr gehe, sagt sie kein Wort. Ihre Augen sind absolute Verzweiflung. Dafür gibt es keine Worte. Auch sie ist voll Blut. Sie hat den Toten umarmt, verzweifelt geschrien.

Einige Verwandte sitzen ebenfalls schweigend da. Eine Frau stimmt hin und wieder eines der alten Totenlieder an, das die ganze Wut und Verzweiflung der Zurückbleibenden herausschreit. Andere kommentieren laut die Ereignisse und die Geschichten der beteiligten Personen. Sie erzählen mir, was passiert ist. Obwohl niemand von ihnen dabei war, weiß eine noch mehr als der andere. Antoni war in der Kneipe zusammen mit seinem Vater. Sie haben Karten gespielt und selbst gebrannten Schnaps getrunken, wie sie es viel zu oft tun. Es gibt mal wieder keine bezahlte Arbeit rundum. Beim Spiel kann man wenigstens genug verdienen für die nächste Runde Schnaps und ein Kilo Reis und Bohnen für die Familie - manchmal. Antoni hatte gewonnen, so viel wie lange nicht mehr, endlich mal wieder Geld in der Hand. Alle müssen zahlen. Rubén hat kein Geld, er lebt gerade auf Kredit bei den Verwandten. Es gibt Streit, Rubén zieht wütend sein Messer aus dem Gürtel, sticht zu und der Gewinner fällt in die Arme seines Vaters. Als Antoni stirbt, ist Rubén längst verschwunden und alles voll Blut - - -

Einige versuchen die Polizei anzurufen, andere suchen den Mörder - beides ohne Erfolg. Rubén kennt die Umgebung wie seine Hosentasche. Der Vater bringt seinen toten Sohn nach Hause und legt ihn zur Totenwache auf den Familientisch. Im Tropenklima muss er morgen begraben werden. Die Nachbarn bringen Kerzen und setzen sich in die Runde mit Kind und Hund. Vater und Mutter reden nicht miteinander. Zu oft hat sie ihm gesagt, er solle den Sohn nicht mitnehmen. Der Vater versucht, einen Sarg zu organisieren. Sein Sohn soll würdig beerdigt werden. Der Sarg muss aus der Stadt gebracht werden oder hier gezimmert. Den kann doch Lucrecia mitbringen. Die kommt doch aus der Stadt. Die arbeitet doch. Sie warten auf Lucrecia.

Sie hat so schnell keinen Sarg bekommen. Als am Nachmittag das öffentliche Transportboot am Steg landet, kommt sie ohne und es muss eine Bretterkiste gezimmert werden. Lucrecia setzt sich schweigend neben ihre Mutter. Nach fünf Jahren die erste Begegnung. Viel später können wir beide miteinander reden. Sie erzählt mir ihren Teil der Geschichte. Sie ist aus dem Dorf geflohen, wollte nie wieder herkommen. Heute arbeitet sie als Putzfrau im Krankenhaus und studiert nebenbei. Sie will Krankenschwester werden und, sie will, dass ihre fünfjährige Tochter niemals dasselbe durchmachen muss. Ihr Lehrer hatte sie vergewaltigt. Als sie schwanger wurde und nichts mehr zu verheimlichen war, hatte ihr Vater sie verprügelt. Der Lehrer hatte nichts zu befürchten. Er war einer der Spielkumpane des Vaters, der Einzige, bei dem der Vater Kredit bekommen konnte, wenn wiedermal nirgends Arbeit in Sicht war - - -

Missbrauchgeschichten am Napofluss sind Familiengeschichten, sind zugleich Geschichten von gemachter Armut, Ungerechtigkeit und Ohnmacht.
Missbrauchte Macht macht Täter zu Opfern und Opfer zu Tätern - auch in Deutschland.

"Denn die einen sind im Dunkeln. Und die anderen sind im Licht.
Und man siehet nur die im Lichte. Die im Dunkeln sieht man nicht."
                                                                                                                (Berthold Brecht)