Ansprache von Christoph Simonsen zum 6. Sonntag im Jahreskreis B

Datum:
So. 14. Feb. 2021
Von:
Ursula Fabry-Roelofsen

Evangelium nach Markus (1,40-45): 

In jener Zeit kam ein Aussätziger zu Jesus und bat ihn um Hilfe; er fiel vor ihm auf die Knie und sagte: Wenn du willst, kannst du mich rein machen. Jesus hatte Mitleid mit ihm; er streckte die Hand aus, berührte ihn und sagte: Ich will – werde rein! Sogleich verschwand der Aussatz und der Mann war rein. Jesus schickte ihn weg, wies ihn streng an und sagte zu ihm: Sieh, dass du niemandem  was sagst, sondern geh, zeig dich dem Priester und bring für deine Reinigung dar, was Mose festgesetzt hat – ihnen zum Zeugnis. Der Mann aber ging weg und verkündete bei jeder Gelegenheit, was geschehen war; er verbreitete die Geschichte, sodass sich Jesus in keiner Stadt mehr zeigen konnte; er hielt sich nur noch an einsamen Orten auf. Dennoch kamen die Leute von überallher zu ihm.


Ansprache:

Fehlt Ihnen auch was in diesen Tagen? In diesen sogenannten „tollen Tagen“? 

Ja ich weiß, es gibt Wichtigeres, Ernsteres. Das Leben stellt gerade so vieles auf den Kopf, was uns bis dato sicher erschien. Wie soll da Raum und Zeit sein für einen solch überflüssigen Quatsch wie Fastelovend? 

 

Und vielleicht nehmen gerade Sie hier in der Grabeskirche es mir übel und finden es despektierlich, überhaupt diese Frage zu stellen. 

 

Geziemt sich angesichts eines solch bedrohlichen Virus, angesichts überfüllter Intensivstationen, angesichts tragischer Sterbefälle, (angesichts der Urnenstelen, die uns hier in der Grabeskirche umgeben), an Pappnasen und Büttenreden zu erinnern? Ist das Leben nicht zu ernst, als dass man in solch eine Oberflächlichkeit abrutschen sollte? Wenn das Leben schon so verrückt ist – ver-rückt im wahrsten Sinn des Wortes - sollte man es zusätzlich noch verunglimpfen? 

 

Nicht verunglimpfen, nein, das sicher nicht; das Leben ist zu kostbar, als dass wir es gering schätzen sollten. Aber wer, wenn nicht wir Christ*innen hätten allen Grund, dem Leben gerade dann eine gehörige Portion Gelassenheit und Rotzigkeit abzuringen, wenn es uns an den Kragen geht?

 

Mir fehlen diese tollen Tage, die mich einladen, dem Leben ein Lachen abzuringen, wo doch der Ernst uns die Luft zum Atmen zu nehmen droht. 

 

Mir fehlen die Karnevalstage, die so etwas wie einen Ausnahmezustand, in der Betrübnis des Alltags darstellen. Ich finde es schade, dass die Schlüssel der Rathäuser in diesen Tagen gerade nicht dem normalen Bürger anvertraut werden. Das ist so ein starkes Symbol, dass eben alle in angemessener Weise beteiligt sind, unsere Gesellschaft, unsere Stadt zu gestalten. Ich finde es schade, dass die Berufspolitiker nur zu Karneval in ihre Schranken gewiesen werden. 

 

Ich finde es schade, dass nur an Altweiberdonnerstag die Frauen das Regiment übernehmen. Ich finde es schade, dass nur am Rosenmontag oder Veilchendienstag die Menschen auf die Straßen gehen und sich so zeigen, wie sie sich selbst in ihren unerfüllten Träume sehen. Ich finde es schade, dass man nur in diesen Tagen offen sagt, was man wirklich denkt. Ich finde es schade, dass nur in diesen Tagen Tanz und Musik und Ausgelassenheit unbeschwert die Gemüter der Menschen prägen. Ich finde es schade, dass nur in diesen wenigen Tagen keiner dem anderen fremd ist und einer der anderen lächelnd herüberruft: "Drink doch ene mit“. 

 

Ich finde es schade, dass die Menschen nur in diesen Tagen die Verhältnisse auf den Kopf stellen und an allen anderen Tagen dem Druck unterliegen, funktionieren zu müssen. All das, was nur in diesen tollen Tagen selbstverständlich ist, könnte uns ein ganzes Leben lang darauf verweisen, dass unser Gott uns zu einer Anarchie der Liebe aufruft, in der es kein oben und unten, kein reich und arm, kein stark und schwach gibt, sondern nur eines: Menschen wie du und ich, Menschen mit Schwächen und Stärken, Menschen mit Begabungen und Grenzen, Menschen, die in einem arm und im anderen reich sind. Menschen, die verrückt sind, weil sie sich selbst und anderen mit Vertrauen begegnen und einander etwas zutrauen.

Wer verrückt ist, der weiß um eine persönliche seelische Mitte und kämpft nicht den überflüssigen Kampf, sich krampfhaft einem Mainstream zu unterwerfen. Diesem Mainstream, in dem alle das gleiche denken und fühlen und wissen; diesem Mainstream der aufgenötigten Kompromissfähigkeit, in der eine eigene Meinung sofort ein Ausschlussverfahren nach sich zieht. Warum darf man eigentlich nur zur Karnevalszeit verschieden sein, ohne gleich ausgeschlossen zu werden?

 

Jesus war auch verrückt: er lässt sich auf eine Begegnung mit einem Aussätzigen ein. Das war damals nicht nur verrückt, sondern sogar gefährlich. Aussätzige wurden verbannt, durften mit keinem Reden, mussten jeden Kontakt meiden. Und wer sich ihnen von sich aus näherte, musste mit hohen Strafen rechnen und wurde selbst ausgeschlossen. Jesus wagte also eine ganze Menge, als er mit dem Aussätzigen sprach. Oder hat er vielleicht selbst schon gespürt, dass er von der Gesellschaft zwar nicht nominell ausgestoßen war, aber  eigentlich doch schon längst ein Outlaw, ein Außergesetzlicher war. 

 

Leider hat der Aussätzige dieses starke solidarische Zeichen Jesu nicht verstanden. Anstatt dem Rat Jesu zu folgen, sich zurückzuhalten, nicht schnurstracks zu den Hohen Priestern zu laufen, macht er genau das. Er wollte endlich wieder zu den „Normalen“ gehören. Er konnte seine Klappe nicht halten und erzählt jedem brühwarm, was an ihm und mit ihm passiert ist. So nach dem Motto: Jetzt gehör ich auch wieder zu euch, nehmt mich auf in eure Runde der Normalen. Es bleibt im Text offen, ob ihm das gelungen ist. Ich vermute eher nicht. Denn für die sogenannte bürgerliche Gesellschaft ist der, der einmal anders war, immer anders. 

 

Wir als Kirche könnten das absolute Gegenbeispiel einer sogenannten bürgerlich braven Gesellschaft sein; wir könnten in einer Anarchie der Liebe leben, wo eine Wertschätzung des Individuums selbstverständlich ist, ohne in einen ausgrenzenden Egoismus zu verfallen. Wir könnten das Leben lachen machen, auch und gerade weil es vom Tod bedroht ist. Wir könnten über uns lachen, ohne einander auszulachen. Wir könnten einander tragen ja sogar manchmal ertragen, wenn das Leben einem das Lachen aus dem Gesicht schwinden lässt.

 

Vielleicht sollte ich dem Geheilten wünschen, er würde auch wieder lieber in die Riege der Verrückten zurückkehren wollen. Gewiss wünsch ich ihm seinen Aussatz nicht zurück. Aber man kann auch gesund verrückt sein. Denn für die Verrückten, da hat Gott scheinbar ein Faible. Und das nicht nur zu Karneval.