Ansprache von Christoph Simonsen zu Silvester 2021- Lesejahr C

Datum:
Fr. 31. Dez. 2021
Von:
Ursula Fabry-Roelofsen

Ein Jahr geht zu Ende.

Wir schauen zurück – dankbar, auch fragend noch.

Wir schauen voraus – in Hoffnung, aber nicht sorgenfrei.

Wir suchen das Wort, das uns entlastet und Mut macht - dein wunderbares Wort des Lebens, Gott.

Wir bitten deshalb: Sprich zu uns, Gott. Gib uns Zuversicht auf den Wegen, die wir heute und morgen gehen werden. 

 

Ansprache:

Ich befürchte: wenn ein erfahrener Controller eine nüchterne Bestandsaufnahme über dieses zu Ende gehende Jahr 2021 vornehmen müsste, sie würde katastrophal ausfallen. Ist eigentlich irgendetwas nach Plan gelaufen? Nichts konnte verlässlich auf den Weg gebracht werden; was heute vorbereitet wurde, musste morgen abgesagt, verschoben, in die digitale Welt ausgelagert werden. Die Kreativität konnte noch so ausgeprägt sein, zu oft folgten die Enttäuschungen auf dem Fuß. Unsere Kirchenmusiker zum Beispiel gehen auf dem Zahnfleisch und ich möchte mich ganz besonders bei ihnen bedanken, den Organisten, den Sängerinnen und Sängern der Chöre, den Instrumentalisten, die alles versucht haben, unsere Gottesdienste würdevoll mitzugestalten und das mit hineingegeben haben, was in diesem Jahr immer wieder unter die Räder gekommen ist: Wärme und Emotionalität. Kontrollen an den Eingängen unserer Kirchen, vor nicht allzu langer Zeit unvorstellbar. Auch hier gilt es Dank zu sagen den Organisatoren und den vielen ehrenamtlichen Helfer*innen. Mit allen unseren zur Verfügung stehenden Kräften haben wir versucht, das Vertraute aufrecht zu erhalten.

 

Wie lange haben wir alle gedacht, dass dieser Ausnahmezustand irgendwann ein Ende haben würde und manche sind bis heute davon überzeugt, dass alles so wird, wie es war. Ich persönlich glaube das nicht. Dieses Jahr der Pandemie wird eine Zäsur sein; vor allem in unserer Kirche. Und das nicht nur, weil die Pandemie so brutal zugeschlagen hat, sondern auch, weil unsere Kirche alles verraten hat, was uns heilig sein sollte. Anstatt, wie in der Weihnachtsbotschaft verheißen, den Himmel auf Erden zu verkünden, hat sie Menschen die Hölle auf Erden bereitet; so hat es ein lieber Freund in seinem Weihnachtsbrief geschrieben. Noch lange geht mir ein sehr intimes und vertrautes Gespräch nach mit einem Mann, der von den missbräuchlichen Gräueltaten berichtet hat in einem Kinder- und Jugendheim hier in Mönchengladbach. Nicht nur ihm sind die Tränen gekommen; Zeit heilt nicht alle Wunden. Wir sollten nicht so tun, als seien alle Übel unserer Kirche und unserer Gesellschaft irgendwo in der Welt geschehen. Nein, auch hier ganz in unserer Nähe haben sich Menschen der Kirche vergangen und versündigt an Schutzbefohlenen. Es mag lange her sein, in den 50iger und 60iger Jahren. Aber wie gesagt: Zeit heilt nicht alle Wunden.

 

All das, was in diesem Jahr ans Licht der Öffentlichkeit gelangt ist, macht eines deutlich: Nichts bleibt, wie es war. Darüber kann man ein Klagelied anstimmen, aber man kann es auch als Chance für einen Neuanfang sehen. 

 

Ein Controller steht in der Pflicht, Verbesserungsvorschläge zu unterbreiten, damit der Laden wieder reibungsloser und profitabler läuft. Daran könnten wir als Glaubende anknüpfen, aber anders als in den wirtschaftlichen Gefügen unserer Gesellschaft. Wobei ich befürchte, dass uns genau dies ins Haus steht nach all den laufenden sogenannten synodalen Prozessen: Wir kürzen ein wenig hier und da – finanzielle Mittel und Personal - und verkaufen das dann als „Konzentrierung aufs Kerngeschäft, wir legen Gemeinden und Kategorien zusammen und verkaufen das dann als Prioritätensetzung. Wir speisen ein paar Frauen ab mit wichtigen Posten in der zweiten und dritten Reihe und verkaufen das dann als Gendergerechtigkeit. Aber genau das wird nicht funktionieren. Denn wenn eines in der Pandemie deutlich geworden ist: Die Menschen haben sich befreit, haben erkannt, dass die immer wieder gepredigten Floskeln nichtssagend und die Traditionen zumeist Riten ohne Inhalt sind. Mit Floskeln und dem Verweis auf Traditionen überzeugen wir heute nicht mehr. Was überzeugt ist personale Nähe und unvoreingenommene Menschlichkeit. 

 

Wie enttäuscht bin ich persönlich immer wieder von neuem gewesen im zu Ende gehenden Jahr, dass mal um‘s mal gecancelt werden musste, was so liebevoll vorbereitet war. Und ja, das stimmt mich auch heute noch traurig. Aber es brauchte eine Zeit, bis ich begriffen habe, dass unbemerkt und ohne eigenes Zutun sich anderes in den Vordergrund drängte: Der Wunsch nach Gespräch; der Wunsch, einander von dem Leben zu erzählen, was durch die Pandemie so durcheinandergeraten ist; der Wunsch, wahrgenommen zu werden in der je eigenen Individualität. Kein Segen mit der Gießkanne, keine Verkündigungen allgemeingültiger Lebensregeln. Nicht vorgeben, wie das Leben zu leben ist, sondern staunen lernen darüber, wie die und der andere lebt. 

 

Nicht Veranstaltungen abhaken und denken, gut, dass wir das auch einmal angesprochen haben, sondern reflektieren, welche Konsequenzen sich aus dem Gesagten und Gehörten ergeben. Was zum Beispiel ist geblieben von dem Gesprächsabend mit Christiane Florin hier in der Münsterkirche? Ihre schonungslose Analyse darüber, dass sich unsere Kirche mit ihrer Weltfremdheit selbst in die absolute Bedeutungslosigkeit katapultiert hat – und das sind eben nicht nur die da oben in Rot und Violett und Weiß, das sind auch wir vor Ort: Geben wir uns damit zufrieden, dass wir Sonntag für Sonntag immer nur die gleichen Gesichter in unseren Gottesdiensten sehen, oder ahnen wir zumindest, dass der Großteil derer, die mit uns in dieser Stadt andere Fragen, andere Bedürfnisse, andere Lebensumstände bewegen, die uns verunsichern und interessieren sollten.

 

 

Es ist an der Zeit, von einer Fortbildungs- und Weiterbildungskirche zu einer Erlebnis- und Erlebens-Kirche zu werden. 

 

Das Jahr 2022 wird – so wie es ausschaut – so beginnen, wie das alte Jahr aufhören wird. Dass die Jahreszahl sich in wenigen Stunden ändert, macht mich nicht neugierig auf das Neue; neugierig werde ich, wenn wir eine neue Ehrlichkeit, ein neues Miteinandersein, ein neues Menschsein in das Jahr hineintragen. Dazu  braucht es Gottes Segen, der uns befreien und zu mutigen Menschen machen möchte, die keine Angst haben davor, dass etwas zu Ende geht und etwas Neues erwachsen möchte.