Buch (c) Bistum Aachen / Andreas Steindl (Ausschnitt)

Stellungnahme des Katholikenrats der Region Heinsberg

Buch
Datum:
Do. 26. Nov. 2020
Von:
Katholikenrat für die Region Heinsberg

zu dem Gutachten der Kanzlei Westpfahl-Spilker-Wastl vom 09.11.2020 und zu der Reaktion der Bistumsleitung

Der Katholikenrat der Region Heinsberg begrüßt den Mut und die Entschlossenheit der Bistumsleitung zum Bekenntnis für eine öffentliche Aufarbeitung der Missbrauchsfälle im Bistum Aachen. Er ermuntert den Bischof, den beabsichtigten Perspektivwechsel schnell zu vollziehen und den Empfehlungen des Gutachtens ebenso schnell zu folgen, soweit dies für das Bistum Aachen kirchenrechtlich zulässig und umsetzbar ist. Der Katholikenrat nimmt aber auch seine originäre Aufgabe wahr, sich öffentlich zu positionieren und dem von der öffentlichen Meinung von ihm geforderten Einsatz für die Opfer nachzukommen. Der Kern des Ansinnens und der angekündigten Maßnahmen zur Bekämpfung der systemischen Ursachen ist ohne Einschränkungen unterstützungswürdig, aber die bisherige Umsetzung und Ausführung sind zu beanstanden.

Deutungshoheit und Beurteilungsmonopol, bezogen auf das Gutachten der RAe Wastl, Pusch und Gladstein der Kanzlei Westpfahl-Spilker-Wastl in München vom 09.11.2020, hat die Bistumsleitung nicht. Angesichts der Tatsache, dass die Verantwortlichkeit für die praktizierte systemische Sexualgewalt und die Verantwortung gegenüber den Opfern bei den Bistumsleitungen, aber die Betroffenheit und die Reaktionsverantwortung bei allen katholischen Christinnen und Christen im Bistum liegen, kommt auch dem regionalen katholischen Laiengremium die Aufgabe zu, sich stellvertretend für alle betroffenen Katholikinnen und Katholiken zu Wort zu melden. Und damit hat auch der Katholikenrat der Region Heinsberg sein Wort zu erheben, wenn es darum geht, welche Konsequenzen aus den Aktenprüfungen und dem darauf beruhenden Gutachten zu ziehen sind. Und vor allem hat er auch zu überlegen, ob überhaupt und ob adäquat und angemessen auf die Ergebnisse der gutachterlichen Feststellungen von der Bistumsleitung reagiert wird.

Das Gutachten selbst entzieht sich bei Anlegung juristischer Maßstäbe grundsätzlich einer Beurteilung und Wertung, da dies nur bei umfassender und profunder Kenntnis der zugrundeliegenden Fallakten sachgerecht und objektiv möglich ist. Die Einsicht in die ausgewerteten Fallakten ist aus rechtlichen Gründen nicht jedermann möglich, so dass sich der Katholikenrat der Region Heinsberg auch ausdrücklich einer Stellungnahme insoweit enthält. Indessen darf und muss der Katholikenrat prüfen, ob das Gutachten objektivierbare Denkfehler enthält, ob die sachliche Stringenz und Logik in der Gedankenführung gewährleistet ist und ob die Schlussfolgerungen zwingend sind.

Daneben hat der Katholikenrat zu prüfen, ob die Reaktionen und Maßnahmen der Bistumsleitung angemessen, zielführend und sinnvoll sind.

Neben dem Bistum Aachen hat zumindest das Erzbistum Köln einen gleichgelagerten Gutachtenauftrag an die Kanzlei Westpfahl-Spilker-Wastl erteilt. In der Öffentlichkeit ist die unterschiedliche Handhabung der Gutachten durch die beiden Kirchenleitungen besonders hervorgetreten. Nach unserer Auffassung muss man den unterschiedlichen Umgang mit den Gutachten im Erzbistum Köln und im Bistum Aachen sehr differenziert nach der jeweiligen Interessenlage betrachten. Das Kölner Gutachten belastet nach den bisher zugänglichen Medienberichten u.a. den früheren Verantwortlichen im Generalvikariat und jetzigen Erzbischof von Hamburg, Stefan Heße, schwer. Ersichtlich wollte der Kardinal seinen Kollegen, und vielleicht sogar sich selbst, schützen. Im Bistum Aachen ist aber im Unterschied zu Köln kein Verantwortlicher mehr im bistümlichen Dienst. Die bereits verstorbenen Mitglieder der Bistumsleitung kommen nur noch für eine theoretische Schuldzuweisung in Betracht. Daneben sind sowohl Bischof Mussinghoff als auch der frühere Generalvikar von Holtum im Ruhestand. Dieser Umstand und die Schuldzuordnungen zu bestimmten Personen dürften der Bistumsleitung bekannt gewesen sein. Also konnte die Bistumsleitung ohne eigene Betroffenheit agieren, weil nach den gutachterlichen Feststellungen alle Schuld auf ihren Vorgängern lastet. Nur ist diese Entlastung nicht wirklich sicher: Nach den eindeutigen und mehrfach wiederholten Feststellungen der Gutachter wurden Personalakten der Täter durch gezielte Aktensäuberung und -vernichtung manipuliert. Wann und durch wen dies geschehen ist, lässt sich jetzt vermutlich nicht mehr eindeutig klären. Demgemäß bleibt nach unserer Einschätzung aber gleichwohl insoweit ein unbefriedigendes Ergebnis.

Die bisher von der Bistumsleitung nach der Pressekonferenz der Gutachter am 12.11.2020 öffentlich gemachten Schritte, Handlungsansätze und -alternativen und Konkretisierungen weiterer Abläufe (Ganzseitiges Zeitungsinserat vom 16.11.2020 / PK der Bistumsleitung vom 16.11.2020) zeigen nach Auffassung des Katholikenrats der Region Heinsberg jedenfalls nicht die aus Opfersicht jetzt zwingend notwendige Konsequenz, Angemessenheit und Zielorientiertheit zur Aufarbeitung der vergangenen Geschehnisse, Verhinderung von Wiederholungen und Vermeidung weiteren Leids für die geschädigten Opfer.

Die namentliche Nennung der in der Vergangenheit agierenden Verantwortungsträger ist ohne Einschränkung begrüßenswert. Überzeugender wäre indessen gewesen, wenn die aktuelle Bistumsleitung sich als langjährige kirchliche Verantwortungsträger in die systemimmanente Schuld mit einbezogen hätte. Bei sexuellem Missbrauch wird häufig immer noch beschönigend von Mitverantwortung, Bedauern und persönlichem Betroffensein gesprochen, wenn Entscheidungsträger der katholischen Kirche sich zu der Problematik äußern. Die Übernahme eigener selbständiger Verantwortung und ein offenes Bekenntnis der eigenen Schuld hört man ebenso selten wie eine persönliche verbindliche Antwort auf diese von Mitgliedern der Bistumsleitung nicht wahrgenommene Verantwortung.

Soweit die Bistumsleitung im Rahmen einer Pressekonferenz am 16.11.2020 „neben bereits umgesetzten sowie geplanten Maßnahmen der Aufarbeitung vor allem einen Perspektivwechsel und Kulturwandel mit Blick auf die Betroffenen“ angekündigt hat, erscheint diese allgemein gehaltene Umschreibung für den Katholikenrat der Region Heinsberg wenig transparent, bestimmt und zielführend und damit nicht ausreichend, um dem Leid der Betroffenen gerecht werden zu können.

Es ist nicht ersichtlich, mit welchen konkreten Schritten „ein grundlegender Perspektivwechsel“ herbeigeführt und manifestiert werden soll. Mit einem ganzseitigen Zeitungsinserat kann das gewünschte Ziel der Aufarbeitung nach unserer Auffassung jedenfalls nicht erreicht werden, abgesehen davon, dass sich durch dieses Inserat kein betroffenes Opfer angesprochen fühlen wird. Und die Bistumsleitung verwendet nach wie vor pauschalisierte Formulierungen, ohne das notwendige eigene Schuldeingeständnis. Sie redet weiterhin davon, „was wir als Kirche in der Vergangenheit getan haben, um Opfer wirklich zu schützen und für sie zu sorgen, war zu wenig, es war nicht angemessen”. Man kann die Belanglosigkeit in der Satzeinleitung sofort wiedererkennen: „Was wir als Kirche …“. Soweit die Bistumsleitung nun eine Reaktion der betroffenen Opfer erwartet und für „ein Gespräch zur Verfügung stehe, wenn sie dies möchten“, muss ihr entgegengehalten werden, dass ein Angebot für ein „Gespräch“ und dann noch die Zuweisung der Initiative an die Opfer zu wenig sind und deren Leid keinesfalls angemessen gerecht werden. Im Gutachten (vgl. S. 12, 341) wird gefordert, dass kirchliche Verantwortungsträger (gemeint: die Bistumsleitung) stärker mit den betroffenen Opfern in Kontakt treten. Also muss die Initiative von diesen ausgehen, Herr Bischof und Herr Generalvikar, nicht umgekehrt.

Einen „Kulturwandel auf verschiedenen Ebenen“ wünscht sich die Bistumsleitung, „man wolle die vielfältigen Formen von Klerikalismus erkennen und überwinden“, aber es finden sich keine konkreten Handlungsperspektiven, in welcher Form dies zielführend, konkret und zeitnah geschehen soll. Unverbindliche Allgemeinplätze, wie „die Weihe und das geistliche Amt schützen nicht vor Haftung und vor Ahndung“ sind in keiner Weise geeignet, den Boden für eine Veränderung im Bistum Aachen zu bereiten.

Soweit die Bistumsleitung als erste Konsequenz die Gründung eines Betroffenenbeirats sowie die Einrichtung einer unabhängigen Kommission, die der Bistumsleitung auf Augenhöhe gleichberechtigt gegenüberstehen, in Aussicht gestellt hat, muss sie jetzt und nicht erst nach weiteren Wochen und Monaten die dafür notwendigen Voraussetzungen schaffen und vor allem in absoluter Unabhängigkeit vom Bistum Auftrag und Befugnisse, sowie eine umfassende Entscheidungskompetenz dieser Kommission klar umreißen. Dies geben auch die Gutachter der Bistumsleitung mit auf den Weg (vgl. S. 12), denn nur eine rechtlich abgesicherte und verbindliche Unabhängigkeit kann gewährleisten, dass objektivierbare Entscheidungen getroffen werden.

Und schließlich geht auch der Verweis der Gutachter auf einen neuen Weg in der Übertragung von Leitungskompetenz auf Frauen in die richtige Richtung. Die Stärkung der Rolle und der Verantwortung von Frauen in der kirchlichen Hierarchie ist ein konstruktives Mittel zur Vermeidung sexuellen Fehlverhaltens von Männern. Diese Erkenntnis ist nicht neu, sie bedarf aber jetzt und sofort einer Umsetzung durch Änderungen in der praktischen Arbeit und der Übertragung von weitreichenden Befugnissen und Rechten auf Laien jeglichen Geschlechts.

Und soweit auch künftig die Bearbeitung von eingehenden Hinweisen, Anzeigen und Informationen zunächst durch die Bistumsverwaltung mittels neuer spezifischer Homepage und Hotline erfolgen soll, muss einer Fortsetzung dieser Praxis widersprochen werden. Die angeklagte Institution sollte nicht initiativ in der Bearbeitung tätig werden. Hier ist eine von der bistümlichen Hierarchie völlig unabhängige neutrale Kommission mit kompetenten Fachleuten, die auch nicht von der Bistumsleitung ausgesucht werden dürfen, gefragt.

Auch die übrigen Empfehlungen der Gutachter (vgl. S. 341 ff) sind – wenn nicht isoliert im Bistum Aachen umsetzbar – zumindest in breit aufgestellter Form unter Beteiligung der bistümlichen Laiengremien zu diskutieren und möglichst einer zeitnahen Umsetzung zuzuführen.

Der Katholikenrat der Region Heinsberg hat auch über das Gutachten hinausgehende Kritikpunkte der Bistumsleitung vorzuhalten:

Wie auch in anderen Bistümern (u.a. Augsburg, Fulda, Freiburg, Limburg, Mainz, Rottenburg/Stuttgart) müssen Entschädigungen an die Opfer ausschließlich aus Mitteln des Bischöflichen Stuhls finanziert werden, und ein Rückgriff auf andere Finanzierungsquellen und Ressourcen des Bistums ist ausgeschlossen.

Die Aufforderung von Bischof Dieser an Bischof Mussinghoff, auf Rechtsmittel gegen das Gutachten zu verzichten (vgl. RP vom 17.11.2020), verletzt die grundgesetzlich gesicherten Rechte eines jeden Menschen und ist bereits im gedanklichen Ansatz verfehlt. Der Diözesanbischof kann seinen Vorgänger natürlich zu einem Gespräch besuchen, um sich mit ihm über die gegenseitigen Standpunkte auszutauschen. Seinen Vorgänger aber darauf zu verweisen, dass er die Beschreibung seines vermeintlichen Fehlverhaltens im Gutachten nicht angreifen und auf Rechtsmittel verzichten solle, passt nicht in unser von demokratischen Grundsätzen geprägtes Menschenbild, sondern entspringt autoritärem Gedankengut.

Dem fatalen Umgang mit dem Leid der Betroffenen liegt ein kirchenrechtlicher Fehler zugrunde: Das Kirchenrecht kennt keine Selbstbestimmung des Einzelnen. Es schützt das Sakrament, die Priesterweihe, den Zölibat und nicht die grundgesetzlich garantierten Rechte des Einzelnen. Bis heute gilt sexueller Missbrauch als Zölibatsverstoß. Die Kirche ist in ihrer eigenen Sichtweise, die auch von Bistumsleitungen immer noch so vertreten wird, das wahre Opfer des Missbrauchsskandals. Solange sich das nicht ändert, haben die oft schwer traumatisierten Betroffen praktisch kein verbrieftes Recht, das sie bekommen könnten. Insofern muss sich an dieser immer noch manifesten Einstellung von vielen kirchlichen Verantwortlichen in Leitungsämtern schnell eine grundlegende Änderung ergeben. Sonst führt sich die Katholische Kirche selbst ad absurdum, und der propagierte Paradigmenwechsel stellt sich lediglich als mediale Inszenierung dar. Im Gutachten wird zutreffend auf den Klerikalismus als zentrale Ursache für die Entwicklung, Verharmlosung und schließlich Verdrängung von sexualisierter Gewalt verwiesen (vgl. S. 179 ff). Dies korrespondiert mit den vorstehenden Aussagen zum Umgang mit Opfern und Tätern.