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2. Adventssonntag Lesejahr B // Zur 1. Lesung

Datum:
Sa. 5. Dez. 2020
Von:
Annette Jantzen

»Tröstet, tröstet mein Volk«, spricht eure Gottheit.
»Redet Jerusalem zu Herzen und ruft ihr zu,
dass ihre Dienstpflicht beendet ist, denn ihre Schuld ist bezahlt.
Hat sie doch aus der Hand Gottes empfangen das Doppelte wegen all ihrer Verfehlungen.«
Eine Stimme ruft: »In der Wüste bahnt einen Weg für Gott,
schüttet in der Steppe eine gerade Straße auf für unsere Gottheit.
Alle Täler sollen sich erheben, und alle Berge und Hügel sollen einsinken,
das Bucklige wird zur Ebene und Schutthalden zum Talgrund.
Da wird der Glanz Gottes offenbar werden.
Alles, was lebt, wird es gemeinsam sehen!« Ja, der Mund Gottes hat es gesagt.

Eine Stimme spricht: »Rufe!« Da sprach (ich/man): »Was soll ich rufen?
Alles, was lebt, ist Gras und all seine Anmut wie eine Blume des Feldes.
Gras vertrocknet, Blumen verwelken,
wenn der Atem Gottes sie anhaucht.
Ja, Gras ist das Volk.«
»Gras vertrocknet, Blumen verwelken, aber das Wort unserer Gottheit steht immer wieder auf.

Auf einen hohen Berg steige hinauf, Freudenbotin Zion! Erhebe mit Macht deine Stimme, Freudenbotin Jerusalem!
Erhebe sie, fürchte dich nicht! Sprich zu den Städten Judas:
›Schaut, eure Gottheit!‹
Schaut, Gott, die Macht über uns, kommt mit Kraft, und ihr Arm übt Herrschaft aus!
Schaut, sie bringt ihren Lohn mit sich, und ihr Ertrag ist vor ihrem Angesicht.
Wie ein Hirte seine Herde hütet, eine Hirtin im Arm die Lämmer sammelt und sie auf der Hüfte trägt,
führt sie die Mutterschafe.«

Jesaja, Kapitel 40, Verse 1-11

 

Drei Schlaglichter auf die Sonntagslesung, die so tief eingegangen ist in die christliche Tradition: Die Rolle der Stadt, der Tochter, der Freudenbotin Zion - Die Weitergabe des Wortes - Die weidende Gottheit.

 

Die Rolle der Stadt, der Tochter, der Freudenbotin Zion:

"Zion", so gegenwärtig besonders in den Liedern zur Advents- und Weihnachtszeit, ist erst einmal dur der Name der Festung auf dem Hügel, auf dem Jerusalem gebaut ist, um die Festung herum, in der hügeligen Steinwüste Juda. 

Zion ist, wie in altorientalischen Sprachen üblich, weiblich. Sie wird wie andere Städte auch als "weibliche" Gestalt vorgestellt, die nährt, schützt und Wohnung gibt. Sie wird bedroht von "männlichen" Mächten, die bedrohen, erobern, herrschen. Diese stark polarisierende Vorstellung der Geschlechter, die sich auch auf die Vorstellung von Männlich-Göttlichem und Weiblich-Menschlichem erstreckt, wirkt immer noch nach. Nicht mehr wirksam sind heute Vorstellungen der Stadt als Frau, in denen die Stadt, ihr (Haupt)Tempel und ihre Gottheit verschmelzen.

Wenn Zion als weibliche Person angesprochen wird, dann ist damit ihre Bevölkerung gemeint: "Zion" sind die Menschen, die in Jerusalem leben, und die Menschen des Landes, das zu Jerusalem gehört.

Im ersten Teil des prophetischen Buches Jesaja erscheint Zion zunächst als "Tochter Zion", womit vor allem gemeint ist, dass sie begehrenswert für umliegende König(reich)e ist. Wenn sie göttliche Strafen erleidet, dann wegen Verfehlungen derer, die in und über sie herrschen. Im zweiten Teil des Buches, der mit der heutigen Lesung beginnt, wird das Bild vielschichtiger:  Zion wird hier zur Ehefrau, zur kinderlosen, verlassenen, bedrohten Frau des göttlichen Ehemannes. Zion erscheint mit Bezug auf Gott jedoch weiterhin auch als Tochter einer göttlichen Mutter, die ihr Kind nicht vergessen kann. Eine Vaterrolle nimmt Gott gegenüber Zion nie ein.

Zion, also Jerusalem, also die Bevölkerung Jerusalems und des umgebenden Landes, also das Volk Israel, also alle, denen die Verheißung Gottes gilt, in letzter Konsequent also wir: Zion ist eine leiderprobte Frau, die unversorgt von ihrem Ehemann zurückgelassen wurde. Und dieser göttliche Ehemann wirbt nun wieder um seine verlassene Jugendliebe, der "zu Herzen geredet" werden soll, damit sie sich ihm wieder anvertraut. Das Werben hat nicht sofort Erfolg, erst im Kapitel 61 ab Vers 10 antwortet Zion, glücklich und befreit. Am Anfang dieses Werbens ist das erfahrende Leid noch zu gegenwärtig, das Krieg und Gewalt (und für heutige Hörer*innen: die Pandemie) über die Stadt gebracht haben, sind Trauer und Verstörung noch zu groß, ist die Zukunft noch zu ungewiss und zu düster.

Zion zögert und jubelt nicht sofort. Das Erlittene wirkt noch und wird noch nachwirken. Aber in unerschütterlichem Vertrauen lässt Gott schon ausrichten, was Zion werden wird: Freudenbotin für alle anderen Städte weithin. Glaubwürdige Zeugin, dass Gott nicht alles einfach gut macht, aber selbst im großen Leid noch eine Hoffnung ist, und dass sich diese Hoffnung zeigen wird nach der Zeit, die es braucht, um mit dem Leid leben zu lernen.

 

Die Weitergabe des Wortes

Wer sagt hier eigentlich was? Für die Lesung im Gottesdiest wurde der Text gekürzt, so dass die Anreden noch unklarer werden als ohnehin schon. 

Da ist eine prophetische Stimme, die einer ungenannten Gruppe Gottes Aufrag weitergibt: Tröstet mein Volk, redet Jerusalem zu Herzen. Die prophetische Stimme fordert diese Gruppe, fordert das wilde Land auf, den Weg zu bahnen, damit die Gottheit in Herrlichkeit erscheinen kann. Damit hängt die Verwirklichung, ob Gott sich wirklich so zeigen wird, von den Hörer*innen des Wortes ab. Das weckt die Skepsis der Angesprochenen: Die das Wort Gottes empfangen sollen, sie sind vergänglich, man kann sich nicht auf sie verlassen, dass sie diesem Wort Glauben schenken. Und vielleicht haben sie ja sogar recht damit, denn sie haben erfahren, dass die Gottheit nicht nur Herrlichkeit und Glanz bringen kann, sondern auch Zerstörung und Tod zulässt.

Der Text ist hier einigermaßen dunkel, so dass für die Bibel in gerechter Sprache hier entschieden wurde, dass die Skepsis von einem "Ich" geäußert werde: "Ich sprach: Was soll ich rufen?" Mir erscheint es aber einleuchtender, hier von einem unpersönlichen "Man sprach: Was soll ich rufen?" auszugehen. Nicht die prophetische Stimme zweifelt, sondern die Weitergabe des Wortes wird zur Herausforderung, wenn die menschliche Leiderfahrung so übermächtig ist.

Die prophetische Stimme verurteilt diese Skepsis nicht, aber sie legt die Erfahrung der immer noch größeren Treue Gottes daneben. Und sie setzt unvermindert auf das Mittun der Angeredeten. Davon, dass sie das Wort weitergeben, hängt seine Verwirklichung ab: Die angesprochene Gruppe muss "Zion" umwerben, und Zion die Botschaft den umliegenden Städten weitersagen.

Das Wort Gottes gibt sich in die Zerbrechlichkeit der menschlichen Erfahrung und hofft darauf, von Menschen angenommen und weitergegeben zu werden, um Wirklichkeit werden zu können.

 

Die weidende Gottheit

Gott nähert sich wie ein Vexierbild: Mal erscheint die Gottheit wie ein starker Krieger, mal wie eine beschützende Mutter, mal spielerisch wie eine Gruppe Kinder. Das Bild wechselt, sobald man näher hinschaut, und bleibt doch vieldeutig. Gott ist die Gottheit, die herrscht und siegt, die die besiegten Feinde in ihrem triumphalen Einzug in die Hauptstadt vor sich hertreibt. Dann sieht sie aus wie ein Hirte, der aber wiederum als Bild für einen königlichen Herrscher dient, und dann wechselt der Umriss wieder und aus dem Hirten wird die Gruppe Kinder, die in der Regel das Kleinvieh hüten, und die Hirtin, die die Lämmer auf der Hüfte trägt, so wie die Frauen ihre Kinder tragen. Machtvolle, kriegerische Bilder für Gott sind nur eine Facette und gehen über in  spielerische, fürsorgliche Bilder. Die Gottheit wäre sehr arm, wenn sie nur siegen und herrschen würde.

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