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32. Sonntag im Jahreskreis B // zum Evangelium

Datum:
Fr. 5. Nov. 2021
Von:
Annette Jantzen

Er lehrte: "Seht euch vor solchen Toragelehrten vor, die gern in langen Gewändern umhergehen, die Grüße auf den Marktplätzen ebenso lieben wie Ehrenplätze in den Synagogen und bei den Mahlzeiten. Sie verschlingen die Häuser der Witwen und beten zum Schein besonders lang. Sie werden einen umso schlimmeren Urteilsspruch empfangen."
Jesus setzte sich im Tempel in die Nähe der Schatzkammer und beobachtete, wie das Volk Geldmünzen in die Schatzkammer warf. Viele Reiche warfen viel hinein. Da kam eine bettelarme Witwe und warf zwei kleine Geldmünzen hinein, die nur wenig wert waren. Da rief Jesus seine Jüngerinnen und Jünger zu sich und sagte zu ihnen: "Ja, ich sage euch: Diese bettelarme Witwe hat mehr als alle anderen in die Schatzkammer hineingeworfen. Alle anderen haben aus ihrem Überfluss heraus gegeben, sie aber hat aus ihrer Armut heraus alles hineingeworfen, was sie besaß – ihren ganzen Lebensunterhalt. Damit hat sie ihr ganzes Leben Gott anvertraut."

Markusevangelium, Kapitel 12, Verse 38-44

Blinde Flecke sind was Faszinierendes. Dass einem Menschen oder einer ganzen Gruppe von Menschen, nur einen Moment lang, ein Leben lang oder viele Generationen lang etwas nicht auffällt, was gleichzeitig elementar und offensichtlich ist: Wer an dieser Stelle keinen blinden Fleck hat, reibt sich die Augen und fragt sich vielleicht, wer hier wohl der Geisterfahrer ist. 

So geht es großen Teilen der Kirche mit diesem Text. Gern in langen Gewändern umhergehen, besondere Plätze in der Kirche einnehmen, bei Konferenzen und Empfängen nach Amtswürde das Wort erteilt zu bekommen - das kennen wir gut. Obwohl, "wir" kennen das nicht alle gleich gut, sondern einige wenige von uns kennen das von innen, die allermeisten aber von außen. Aber so ist das mit blinden Flecken, wenn man sie bemerken würde, wären es keine blinden Flecken. Man gewöhnt sich an vieles, und die Intuition des Kindes, das laut kräht "der Kaiser ist ja nackt!" - sie wird überlagert von Gewohnheiten, Nicht-in-Frage-Stellen, vom Sich-Einrichten, vom Angenehmen und von der Angst, was passieren würde, wenn man so einen Anspruch wirklich in das eigene Leben lassen würde, wenn man Jesus wirklich glauben würde, dass wir alle gleich sind. Vor über 150 Jahren hat Søren Kierkegaard diesen blinden Fleck trocken kommentiert mit dem bitter-ironischen Fazit "und da ist niemand, der lacht". 

Was gäbe es sonst noch zu sagen von diesem Evangelium? Vielleicht dies: Dass die Bibel ein wunderbares Buch ist. Es ist einfach nicht totzukriegen. Vielstimmig, widersprüchlich, schillernd spricht es immer noch von Gott in dieser Welt, von Gott-der-Ewigen und Gott-der-Langmütigen, von Gott, die zürnt und von Gott, die lacht. Wir - diesmal wirklich wir - können es immer noch lesen, behutsam den Staub von den Seiten blasen und es neu sprechen lassen in diese unsere Wirklichkeit hinein. In unsere Arroganz und unsere unbewussten Privilegien, in unser Unvermögen und in unser Bemühen hinein. Und wir können uns neu in Anspruch nehmen lassen und ausprobieren, was passiert, wenn wir Jesus wirklich noch einmal neu zuhören. 

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