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30. Sonntag im Jahreskreis C // zur ersten Lesung

Datum:
Fr. 21. Okt. 2022
Von:
Annette Jantzen

Schlage dir durch Unrecht erworbene Opfer aus dem Kopf, denn die Ewige ist Richterin und bei ihr spielt das Ansehen der Person keine Rolle. Sie ist den Allerärmsten gegenüber nicht voreingenommen und hört auf die Bitte von Menschen, denen Unrecht geschieht. Niemals überhört sie den Hilferuf der Waisen und Witwen, wenn sie ihre Klagen ausschütten. [Fließen die Tränen der Witwe nicht über ihre Wangen, und klagt ihr Hilfeschrei nicht die an, die ihre Tränen verursacht haben?] Menschen, die Gott dienen, werden mit Freude angenommen, und ihre Bitte dringt bis zu den Wolken. Das Gebet erniedrigter und entwürdigter Menschen dringt durch die Wolken, und es lässt nicht nach, bis es sein Ziel erreicht hat; es gibt nicht auf, bis die Höchste es wahrnimmt, sich für die Gerechten vor Gericht einsetzt und ihnen Recht verschafft. 

(Buch Jesus Sirach, Kapitel 35, Verse 15-22)

Gott ist an der Seite der Armen und der Unterdrückten. So hören wir es wieder und wieder: im Text der Bibel selbst, in Auslegungen und nicht zuletzt in kirchlichen Äußerungen. Und doch findet diese Aussage wenig Resonanz: Man sieht es christlichen Gemeinden oft nicht an, dass sie Orte sind, an dem Arme und Unterdrückte sich selbst ermächtigen könnten, dass es empowernde Orte für Menschen mit vielfältigen Diskriminierungserfahrungen sein könnten, dass es Anders-Orte sein könnten.

Und ich glaube, das hat einen einfachen Grund, nämlich die herrschende Stellung der Kirche, und wo diese Stellung nicht mehr besteht, immer noch das herrschende Auftreten der Kirche und derer, die in ihr das Sagen haben. (Natürlich haben alle Christ*innen das Sagen, aber es gibt doch oft Streit darum, wer dazu legitimiert sei, und derzeit sind die zu 100% männlichen Amtsträger nicht bereit, auf ihre Deutungshoheit zu verzichten.)

Und das wiederum hat auch einen Grund: nämlich dass die Kirche selbst nicht nur kein Anders-Ort für die Diskriminierten ist, sondern selber massiv zur Ausgrenzung und Abwertung von Gruppen beiträgt, die ohnehin mit vielen Schwierigkeiten leben - man braucht nur an die enorme Verletzlichkeit von trans*-Personen zu denken.  Und diese Machtausübung ist Folge eines blinden Flecks - eines sehr großen, sehr blinden Flecks. (Der Punkt beim blinden Fleck ist, dass keine individuell böse Absicht vorliegt. Aber die Verantwortung besteht, zum Dazulernen bereit sein zu müssen.)

Der blinde Fleck ist, glaube ich, das einseitig-männliche Gottesbild. In unserer normalen Gottesrede wird Gott mit den wirkmächtigsten gesellschaftlichen Privilegien ausgestattet: Er wird männlich angesprochen, weiß dargestellt und soll verantwortlich sein für eine strikt heteronormativ angelegte Schöpfung.

Wenn man sich unten das "Rad der Privilegien" anschaut - diese Darstellung bezieht sich auf englischsprachige Länder, was global gesehen wohl angemessen ist -, dann wird klar, dass diese Gottesvorstellung nicht nur den gesellschaftlichen Privilegien entspricht, sondern dass es auch Segmente gibt, in denen die Kirche aktiv zur Unterdrückung der Nicht-Privilegierten beiträgt, und zwar beim Geschlecht und bei der sexuellen Orientierung.

Umso unglaubwürdiger wird die Aussage, dass Gott, wie wir von ihr sprechen, eine Gottheit der Befreiung sei, die für die Entrechteten eintritt, so wie es der heutige Lesungstext vor Augen stellt. Völlig unverständlich ist, warum ausgerechnet die Verse 18 und 19 aus dem offiziellen Lesungstext (oben eingeklammert) herausgekürzt wurden: Tränen und Hilfeschreien von diskriminierten Frauen sind wohl nicht so wichtig und können ruhig übergangen bzw. überlesen werden. Dazu passt, dass die "Armen und Unterdrückten" selten als "arme und unterdrückte Frauen" gehört werden - dabei stellen Frauen die Mehrheit der Menschen in Armut und prekären Verhältnissen, damals wie heute.

Wenn ich von "Gotteswort, weiblich" erzähle, bekomme ich oft gesagt: "Aber Gott hat doch kein Geschlecht!" Das stimmt. Aber wir haben eine unsichtbare männliche Norma am Start, die dafür sorgt, dass männliche Vorstellungen gar nicht als gegenderte Vorstellungen erkennbar werden - so unsichtbar wie das Wasser für die Tiere des Meeres  oder wie für uns die Luft zum Atmen. HERR und Vater sind selbstverständlich männliche Bilder, und sie sind genauso begrenzt wie alle anderen Bilder auch. Ein weibliches Gottesbild ist auch nicht falsch oder unangemessen, weil es die Alles-übersteigende-Einheit von Gott nicht darstellen könnte. Das kann kein Bild. Ein blinder Fleck ist es, wenn weibliche Bilder als begrenzt wahrgenommen werden, männliche aber nicht. 

Wenn Gott nun - unbemerkt - männlich gegendert wird und mit allen gesellschaftlichen Privilegien ausgestattet wird, warum sollte ich dieser Gottheit dann glauben, dass sie für die Unterdrückten eintritt? Welche Erfahrung sollte mich darin bestärken? Und: Wenn ich das Eintreten für die Unterdrückten immer nur als Appell höre, dann erfahre ich nichts über die mächtige Befreiungswirklichkeit Gottes. Dann erfahre ich nur, was ich muss und soll, und der Appell nährt in mir einen Zweifel, ob ich in Gottes Augen wertvoll bin. Es fällt mir dann schwerer, die unbedingte Zuwendung Gottes zu allen ihren Geschöpfen zu sehen und mein Vertrauen auf sie zu setzen. 

In diesem Lesungstext steht auf deutsch "die Ewige", wo im Originaltext JHWH steht, der Gottesname, der aus der aussprechbaren Wirklichkeit ausgezogen ist, weil alles andere diese Gottheit eingrenzen würde. Die Ewige also, deren Name JHWH aus einem Wortspiel mit dem hebräischen Wort für "sein" kommt: Ein Spiel, kein Dogma; eine Zusage, kein Appell; eine unauslotbare Nähe, kein distanzierter und unbewegter Herrscher. Diese Gottheit würde nie die Tränen und die Hilfeschreie der Frauen übergehen. 

Glaubwürdig diesen Text vertreten, und zwar so, dass man ihm glauben kann: das geht nur, wenn man Gott nicht direkt oder indirekt mit denen identifiziert, die ohnehin mächtig sind und derentwegen andere ohnmächtig bleiben. Wobei - bei Gott bleiben sie nicht ohnmächtig, denn Gott hört ihr Gebet, hört und bewahrt. Gott hört das Gebet der Rechtlosen am Rand der Gesellschaft - im alten Orient: die Witwen und Waisen, heute hier: die Geflüchteten, die Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus, die Prostituierten, die Opfer von männlicher Gewalt...  und darin und immer wieder: die Frauen. In fast jedem Bereich, in dem es Diskriminierung gibt, wird diese Diskriminierung nochmals potenziert, wenn Frauen betroffen sind. Nur in einer Kirche, in der diese Diskriminierung wahrgenommen und benannt wird und wo die Verantwortlichen diese Diskriminierung glaubwürdig beenden wollen, nur dort kann das Wort von Gott, die unbedingt an der Seite der Unterdrückten steht, glaubwürdig sein, Relevanz entfalten und bewirken, wozu es gesagt worden ist. 

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Wheel of privilege (c) Sylvia Duckworth