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26. Sonntag im Jahreskreis // Zur 2. Lesung

Datum:
Fr. 25. Sep. 2020
Von:
Annette Jantzen

Ich freue mich, wenn ihr einander in der Christusgemeinschaft mit gutem Rat unterstützt, wenn liebevoller Zuspruch seinen Platz hat, wenn ihr eine geistgewirkte Gemeinschaft seid, wenn Liebe und Erbarmen regieren. Macht meine Freude vollkommen dadurch, dass ihr ganz einig seid, dieselbe Liebe füreinander empfindet, unzertrennlich und auf ein und dasselbe bedacht seid. Tut nichts aus Eigennutz oder hohlem Geltungsstreben, sondern nehmt euch selbst zurück und achtet die anderen höher als euch selbst, indem ihr nicht auf das seht, was euch selbst nutzt, sondern auf die Interessen der anderen. Euer Verhältnis zueinander soll der Gemeinschaft mit Jesus Christus entsprechen.

Über göttliche Gestalt verfügend, hielt Christus die Gottgleichheit doch nicht wie ein glückliches Los fest, sondern entäußerte sich selbst aller Vorrechte und nahm die Gestalt eines versklavten Menschen an, wurde den Menschen gleich und seine ganze Erscheinung zeigte: Er war ein Mensch wie du und ich. Er erniedrigte sich selbst und war dem Auftrag Gottes gehorsam bis zum Tode, dem Sklaventod am Kreuz. Darum hat Gott den Erniedrigten erhöht und ihm den Namen verliehen, der über jeden Namen erhaben ist, damit im Namen Jesu sich alle Knie beugen sollen im Himmel und auf Erden und unter der Erde, und jede Zunge bekennen soll, dass Jesus Christus der Herr ist zur Ehre Gottes, unserer Mutter und unseres Vaters.

Phil 2, 1-11

Nehmt euch selbst zurück: Das ist nicht einfach nur Höflichkeit, mit der man jemanden am Kuchenbuffet (oder am Desinfektionsmittelständer) vorlässt. Das griechische Wort meint „erniedrigen“ und bezieht sich auf den gesellschaftlichen Status eines Menschen, erst im übertragenen Sinn auf eine Haltung Gott gegenüber. Es besagt hier: So parteilich für die Erniedrigten zu sein, wie Gott es ist, auf Privilegien zu verzichten, die gesellschaftliche Ordnung mit ihren Herrschaftsstrukturen in Frage zu stellen. Das ist in einer Gesellschaft wie der römischen Kolonie Philippi, wo rund ein Viertel der Bevölkerung versklavt ist, keine Theorie. Hier ist die Erniedrigung in Gestalt der Sklaverei eine mächtige Realität.

Der Mensch-von-Gott, mit dem Gottes Wirken unter uns Gestalt angenommen hat, nimmt den leidenden und gedemütigten Körper eines Sklaven, einer Sklavin an. Er stirbt den Tod der Unfreien und Ausgebeuteten – nur Menschen ohne römisches Bürgerrecht konnten zur Kreuzigung verurteilt werden, Frauen übrigens genauso wie Männer. Sein Körper wird dem öffentlichen Schauspiel preisgegeben. 

Diese Sätze waren an Menschen gerichtet, von denen etliche versklavt waren. Sklaverei bedeutet(e) das Gegenteil eines Lebens in Würde und Freiheit. Sklav*innen waren im römischen Reich bis in die Körperlichkeit hinein gedemütigt, weil sie auch sexuelles Eigentum waren. Ihnen standen die Wege nicht offen, sich in ihrer Körperlichkeit Ehre zu verdienen, nämlich der Weg für Frauen, keusch zu sein, und für Männer, eine aktive Rolle in ihren Geschlechtsbeziehungen einzunehmen: Sklavinnen hatten erzwungene sexuelle Kontakte, das machte sie in diesem Denksystem unkeusch; versklavten Jungen und jungen Männern wurde beim Geschlechtsverkehr mit freien Männern die damals als unwürdig geltende passive Rolle aufgezwungen. So wurde ihnen ihre Versklavung in ihren Körper eingeprägt. Der versklavte Mensch hat einen „Leib der Demütigung“, wie Paulus im späteren Fortgang des Philipperbriefes auf Christus hin formuliert.

Der Mensch-von-Gott ist auf der Seite der Erniedrigten. Gott gibt den Erniedrigten eine Würde, die unüberbietbar ist. Bei Gott sind die Sklav*innen freie Bürger*innen mit einer unverlierbaren Würde. Das muss in den Ohren der versklavten Christinnen und Christen in Philippi eine gigantische Botschaft gewesen sein. 

Und was folgte für die freien Christinnen und Christen daraus? Konnte dieses Lied über Christus sie darin bestätigen, dass die wichtigste Eigenschaft eines Sklaven, einer Sklavin Gehorsam war? War die Erhöhung ihnen wichtiger als die Erniedrigung und der Beweis, dass Christus trotz seines Todes nie ein echter Sklave gewesen war? Oder war da eine Botschaft so mächtig, dass sie tatsächlich die gesellschaftlichen Verhältnisse im Bereich der christusgläubigen Gemeinde umstürzen konnte?

Zumindest für eine Weile ist das wohl so gewesen: Sklav*innen und Freie, Männer und Frauen, Einheimische und Fremde erfuhren sich als eine Gemeinschaft von Gleichen. Erst langsam, spät und gegen mehr Widerstände, als der heutigen Sammlung der neutestamentlichen Schriften ohne weiteres anzusehen ist, konnten sich herkömmliche, patriarchale Herrschaftsmodelle im Bereich der sich entwickelnden Struktur der christlichen Gemeinden etablieren. Diesem Christuslied im Brief an die Christinnen und Christen in Philippi entsprechen sie nicht.

Und heute? In unseren Ohren klingen Erniedrigung, Sklaverei, Todesstrafe am Kreuz nach einer fernen Vergangenheit. Sie ist aber nicht fern. Christus wurde in allem ein Mensch und erlitt, was Menschen einander anzutun in der Lage sind. Er erlitt, was geschieht, weil Ausbeutung profitabel ist: Er nahm den Körper einer Prostituierten an, die in Deutschland anschaffen geht, um ihre Familie in Osteuropa zu ernähren. Er nahm den Körper der Arbeiterinnen und Arbeiter in der Fleischindustrie an, die noch um ihren Mindestlohn betrogen werden. Er nahm den Körper der Geflüchteten an, die schwer verletzt an Leib und Seele an den Grenzen Europas stranden. Sie sind es, die bei Gott über alle erhöht werden.

So klingt es schon viel weniger fremd: Ihr sollt untereinander so gesinnt sein, dass ihr die Welt aus deren Perspektive betrachtet. Ihr dürft einander nicht verletzen und nicht beschämen, schon gar nicht in der Kirche. Und ihr dürft hoffen, dass eure eigenen Erfahrungen, verletzt und beschämt worden zu sein, bei Gott anerkannt und geheilt werden. 

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