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23. Sonntag im Jahreskreis C // zur zweiten Lesung

Datum:
Fr. 2. Sep. 2022
Von:
Annette Jantzen

Zwar habe ich in enger Verbundenheit mit dem Gesalbten die Freiheit dir zu befehlen, was angemessen ist, doch um der Liebe willen möchte ich – Paulus – dich lieber bitten, und das als einer, der wegen seines Alters Respekt verdient und jetzt auch noch im Gefängnis einsitzt um des Gesalbten Jesus willen. Ich bitte dich für mein Kind, das ich in Fesseln geboren habe, den Onesimus. Er war für dich damals ohne Nutzen, jetzt aber ist er für dich und mich von großem Nutzen. Ihn habe ich dir zurückgeschickt, ihn, das heißt: mein Innerstes. Ich hätte ihn gerne bei mir behalten, damit er mir an deiner Stelle in den Fesseln der Freudenbotschaft dient. Doch ohne deine Zustimmung wollte ich nichts tun, damit deine gute Tat nicht wie unter Zwang, sondern freiwillig geschieht. Denn vielleicht wurde er deshalb für kurze Zeit von dir getrennt, damit du ihn schließlich für immer empfängst, nicht mehr als einen Sklaven, sondern als jemand, der weit mehr ist als ein Sklave: nämlich ein geliebter Bruder. Das ist er ganz besonders für mich, um wie viel mehr sollte er es für dich sein – als Mensch und als einer, der zum Gesalbten gehört.

Brief von Paulus und TImotheus an Philemon, Aphia und Archippus

Wie ein Brief verstanden wird, ist oft eine Frage des Kontextes. Paulus schreibt an Philemon, ein leitendes Gemeindemitglied, um ihn dazu zu bringen, seinen geflohenen oder sich herumtreibenden Sklaven Onsemimus wieder aufzunehmen und dann als Bruder zu behandeln. Das ist eine richtige, aber nicht vollständige Zusammenfassung dieses Briefs, der irgendwann zwischen 52 und 55 n.Chr. entstanden ist. Zum Kontext gehört auch: Paulus schreibt gemeinsam mit Timotheus an Philemon und wendet sich zugleich an eine größere Gemeindeöffentlichkeit, repräsentiert von Aphia und Archippus. Das gibt dem Brief ein anderes Gesicht. Paulus appelliert an die Freiwilligkeit des Philemon und setzt ihn zugleich deutlich unter Druck, durch emotionale Ansprache wie auch durch die Herstellung einer Öffentlichkeit - eine Öffentlichkeit, die Frauen als wichtige Akteurinnen kennt. Das ist kein herrschaftsfreier Diskurs, sondern zeigt, dass auch Menschen mit den besten Absichten nicht davor gefeit sind, subtil Macht über andere auszuüben. Und dennoch scheint auch hier noch in dieser Gebrochenheit ein Schimmer der göttlichen Liebe durch, in der alle Menschen, alles Lebendige gleich gesehen, gemeint und gehalten sind. 

Der Brief wurde in der langen Christentumsgeschichte oft dazu benutzt und missbraucht, Sklavere zu rechtfertigen. Das ist nicht nur Bequemlichkeit oder Eigeninteresse der später mit dem Brief argumentierenden Personen, sondern es verweist auf ein Problem des Ansatzes, den Paulus hier vertritt: Paulus argumentiert innerhalb des Systems, und nach dieser Argumentation bleibt Onesimus ein Sklave. Aber innerhalb der Gemeinde gibt es diese fundamentalen Unterschiede zwischen Sklaven und Freien nicht mehr, und entsprechend soll der Sklavenbesitzer Philemon ihn als Bruder behandeln. Der Druck, den Paulus aufbaut, zeigt, wie viel das von Philemon verlangt ist, wie wenig selbstverständlich diese Gleichheit der Getauften ist. Denn das System der Sklaverei hat seine eigene Schwerkraft, und so setzt sich denn auch der innerhalb des Systems eingeführte neue Umgang nicht nachhaltig durch, sondern im Christentum gibt es dann doch wieder sehr wirksame Unterscheidungen zwischen Oben und Unten, Herrschenden und Beherrschten. 

Ähnlich ging es mit der neuen Gleichberechtigung der Geschlechter in der Gemeinde, die an Jesus als Mensch-von-Gott glaubte: Das herrschende System des Patriarchats wurde nicht angetastet, aber in ihrem Innenleben war die Gemeinde anders aufgestellt, ein Gegenbild zur umgebenden Gesellschaft, mit Frauen als gleichberechtigten Schwestern, als Leiterinnen gar. Wo Frauen diese Freiheit aber in äußere Formen umsetzten - als Wüstenmütter, als Pilgerinnen, als öffentlich Lehrende -, da wurden sie häufig genug wieder in die gesellschaftlichen Schranken verwiesen, die dann auch den christlichen Brüdern recht gelegen kamen, und am Ende hatten sie in der Gemeinde zu schweigen: Denn auch das Patriarchat hat seine eigene Schwerkraft, mit der es uns bis heute am Fliegen hindert. 

Paulus ist hier schon in einem Bemühen unterwegs, in lebbare Kompromisse umzusetzen, was Jesus von Nazareth als radikale Forderung ausgesprochen hatte: In der Endzeit Gottes zu leben, ohne gesellschaftlich oder religiös begründete Trennungen zwischen Menschen, unmittelbar aus dem großen Erbarmen Gottes heraus. Leben in Verbundenheit, ohne die Sachzwänge menschenverachtender Strukturen. Menschen haben schon wenige Jahrzehnte danach versucht und sind auch daran gescheitert, das innerhalb dieser Sachzwänge lebendig zu halten. Der Brief an Philemon, Aphia und Archippus ist ein Zeugnis dieses Versuchs.

Heute sehen wir es als Irrweg, den Brief als Rechtfertigung der Sklaverei zu lesen anstatt als Bemühen, ein richtiges Leben im falschen zu führen. Es entlarvt zudem den eigenen Standpunkt in den heutigen Debatten um Rassismus und Privilegien, wenn man den Brief automatisch aus der Perspektive des Sklavenhalters liest. Gleiches gilt für alle Textstellen, an denen wie beim sichtbaren Teil eines Eisbergs noch zu sehen ist, wie kraftvoll gleichberechtigt die Frauen der frühen Gemeinden waren. Sie sind nicht dafür da, in heute wirksame Logiken des Ausschlusses und der Über- und Unterordnung eingepasst zu werden, sondern sie sind zu lesen als Zeugnis für die vorübergehende Überwindung dieser ungerechten Strukturen. Und sie sind zu lesen als Ermutigung, diese Überwindung immer neu anzugehen.

Deutlich mehr als die Hälfte der heute versklavten Menschen sind Frauen und Kinder. Vor dem Hintergrund der heute noch intakten Strukturen von Menschenhandel, sexueller Ausbeutung und Rechtlosigkeit wirkt der Gelegenheitsbrief von Paulus und Timotheus betreffend den Sklaven Onesimus - der selber keine Stimme bekommt, sondern über den nur gesprochen und geschrieben wird - fast hilflos. Aber ein einzelner Sklave von hunderttausenden hat so wenigstens einen Namen, der heute noch gelesen wird. Onesimus ist ein Teil der Gemeinde Jesu durch die Zeit hindurch. 

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